Die versteckte Gefahr in Europas neuen Energienetzen

Unter Wasserstoffversprödung versteht man, technisch gesprochen, eine Änderung der mechanischen Eigenschaften, die durch das Eindringen und die Einlagerung von Wasserstoff in ein Metallgitter verursacht wird. Der Effekt ähnelt einer Materialermüdung: Es bilden sich Risse, die den Einsatz bestimmter Materialien deutlich einschränken. 

„Das liegt an den spezifischen Eigenschaften von Wasserstoff“, erklärt Werner Hannig, Leiter Qualität & Entwicklung des Edelstahlrohr-Herstellers Schoeller Werk GmbH & Co. KG, im Interview mit der Fachzeitschrift gwf Gas + Energie. „Als kleinstes Atom kann sich Wasserstoff in den Zwischengitterplätzen der Kristallstruktur von Stahl bewegen. Bei einem Standarddruck von 700 bar, wie er etwa in Wasserstofftanks von Brennstoffzellenautos herrscht, wird schnell klar, wie relevant die Problematik ist." 

Der Mechanismus der Wasserstoffversprödung 

Die Wechselwirkung zwischen Wasserstoff und Werkstoff ist komplex und kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen der umgebungsbedingten Versprödung, bei der Wasserstoff aus der Umgebung in das Material eindringt. In der Regel geschieht dies durch Korrosionsprozesse. Besonders kritisch ist diese Versprödungsart für Rohrleitungen, die permanent mit Wasserstoff in Kontakt stehen. Als zweiter Typ existiert die interne Versprödung, die schon während der Herstellung oder Verarbeitung des Materials entsteht.  

Was auch immer die Ursache ist, der Prozess verläuft stets nach einem charakteristischen Muster. Zunächst erfolgt die Adsorption des Wasserstoffs an der Metalloberfläche. Dabei ist der vorherige Übergang von molekularem zu atomarem Wasserstoff entscheidend: Nur in Form einzelner Atome kann Wasserstoff in die Metallstruktur eindringen. Nach der Adsorption diffundiert der Wasserstoff dann im Inneren des Materials zu Bereichen mit hoher Zugspannung -– etwa an Kerben oder Materialfehlern.  

Dadurch sammeln sich die Wasserstoff-Atome bevorzugt an Korngrenzen, Einschlüssen und anderen Fehl- oder „Fangstellen“ an. Hat die Wasserstoffkonzentration dann ein kritisches Ausmaß erreicht, versagt das Material und die Rissbildung setzt ein. Bei geringeren Wasserstoffkonzentrationen tritt das Versagen erst bei höheren kritischen Spannungen auf, bei sehr hohen Konzentrationen reichen schon geringe Spannungen. Was Wasserstoffversprödung besonders tückisch macht: Die Schädigung ist anfangs völlig unsichtbar. Druck, mechanische Belastung und hohe Temperaturen beschleunigen nach dem ersten H2-Eintritt die Wasserstoffaufnahme und damit den Schädigungsprozess, allerdings zeigt sich dies meist erst nach Monaten oder Jahren – dann aber katastrophal und ohne Vorwarnung. 

Nicht alle Stähle sind gleich betroffen 

Wasserstoffversprödung kann grundsätzlich viele Konstruktionswerkstoffe betreffen, doch nicht alle Materialien reagieren gleich empfindlich. Am anfälligsten sind hochfeste Stähle, Titan und bestimmte Aluminiumlegierungen. Bei Stählen spielt vor allem die Gefügestruktur eine entscheidende Rolle für den Grad ihrer Anfälligkeit. 

„Die Gefügestrukturen Delta-Ferrit und α'-Martensit nehmen bei einer Beaufschlagung verstärkt Wasserstoff auf", erklärt Werner Hannig von Schoeller. „Ferritische Nichtrostende Stähle bestehen zu 100% aus einer Ferrit-Phase, über die sehr schnell Wasserstoff-Atome aufgenommen werden. Das führt zu einer ausgeprägten Sprödbruchneigung unter statischer oder dynamischer Belastung." 

Besonders gefährdet sind un- und niedriglegierte Stähle sowie höherfeste Stähle mit hohem Martensitgehalt und einer Streckgrenze über 800 MPa. In der Praxis betrifft dies zum Beispiel auch hochfeste Schrauben ab der Festigkeitsklasse 10.9. Die Versprödungsgefahr steigt mit zunehmendem Martensitgehalt, da diese Gefügestruktur besonders anfällig für die Einlagerung von Wasserstoff ist. Gerade bei diesen Werkstoffen führt Wasserstoffversprödung zu einem plötzlichen Versagen ohne vorherige Warnsignale. 

Eine wichtige Ausnahme bilden austenitische Stähle. Ihre kubisch-flächenzentrierte Gitterstruktur weist eine deutlich geringere Diffusionsgeschwindigkeit für Wasserstoff auf als die kubisch-raumzentrierte Struktur des Ferrits oder Martensits. „Der Diffusionskoeffizient von Wasserstoff liegt bei austenitischen Stählen bei Raumtemperatur im Mittel bei etwa 5 x 10-15 m²/s, bei ferritischen Stählen dagegen um mehrere Potenzen höher", erläutert Werner Hannig. Diese verringerte Wasserstoffaufnahme macht austenitische Stähle zu bevorzugten Werkstoffen für wasserstoffführende Systeme.  

Auch die Legierung spielt eine wichtige Rolle: Während Nickel den kritischen Delta-Ferrit-Anteil und damit die Versprödungsanfälligkeit reduziert, erhöhen Elemente wie Chrom, Molybdän oder Titan die Anfälligkeit gegenüber einer Wasserstoffaufnahme. Am resistentesten zeigen sich höherlegierte austenitische Edelstähle – ein wichtiger Aspekt für Konstrukteure von Wasserstoff-Infrastrukturen. 

Prävention und Monitoring – Schlüssel zur sicheren Wasserstoffnutzung 

Die Vermeidung von Wasserstoffversprödung beginnt daher bereits bei der Materialauswahl. Derzeit können sich stahlverarbeitende Unternehmen etwa an der US-amerikanischen Norm SAE J2579 orientieren, die klare Kriterien für den Einsatz von Werkstoffen in Wasserstoffanwendungen definiert. Auch das Bundeswirtschaftsministerium hat die Bedeutung einheitlicher Standards erkannt und eine "Normungsroadmap Wasserstofftechnologien" in Auftrag gegeben. "Ohne Standards funktioniert das Zusammenspiel der Liefer- und Wertschöpfungskette nicht reibungslos", betont Werner Hannig. 

Da die Zeit zwischen Wasserstoffaufnahme und Schädigung oft Tage oder sogar Monate beträgt, kommt darüber hinaus der Prävention eine Schlüsselrolle zu. Dafür stehen verschiedene technische Möglichkeiten zur Verfügung. 

• Mechanisches galvanisches Verzinken statt klassischer Galvanisierung 

• Spezielle Oberflächenbeschichtungen wie Dacromet oder Geomet 

• Alternative Verbindungstechnologien wie Laser- oder WIG-Schweißen 

• Angepasste Wärmebehandlungsverfahren mit präziser Temperaturführung 

Als besonders effektiv hat sich nach Wackermann et al. die gezielte Wärmebehandlung erwiesen. Das sogenannte Spannungsarmglühen bei 200-230°C reduziert nicht nur die kritischen Eigenspannungen im Material, sondern lässt auch den stark verzerrten, frisch gebildeten Martensit an. Bei hochfesten Stählen ist zudem das Wasserstoffarmglühen unverzichtbar, ein Verfahren, das den gefährlichen diffusiblen Wasserstoff aus dem Bauteil entfernt. 

Besonders wichtig ist die Wärmebehandlung nach galvanischen Prozessen. Die Temperatur sollte dabei zwischen 200°C und 230°C liegen, die Dauer zwischen 2 und 24 Stunden betragen. Entscheidend ist, dass die Behandlung innerhalb von vier Stunden nach der Galvanisierung erfolgt - idealerweise sogar innerhalb der ersten Stunde. 

Zur Prävention gehört auch die Überwachung von wasserstoffführenden Systemen. Sie erfolgt üblicherweise durch regelmäßige mechanische und technologische Werkstoffprüfungen. Dabei achten die Prüfer beispielsweise auf Veränderungen der Duktilität und eine mögliche Verringerung der Gleichmaß- und Bruchdehnung. Die Norm ISO 15330 definiert dabei das Standardverfahren: Die Bauteile werden über mindestens 48 Stunden einer definierten Zugspannung ausgesetzt und auf Rissbildung untersucht. 

Ausblick: Wasserstoff braucht neue Standards 

Angesichts der Vielzahl nationaler Wasserstoffstrategien, die seit rund fünf Jahren rund um den Globus verabschiedet werden, ist klar: Die sichere Handhabung des Gases wird in den kommenden Jahren zu einer Schlüsselkompetenz der Rohr- und rohrverarbeitenden Industrie. Dies betrifft nicht nur den geplanten Aufbau eines Netzwerks aus Wasserstoff-Pipelines und -Speichern, sondern auch zahlreiche industrielle Anwendungen – von der Schwerindustrie bis zur Mobilität. Wasserstoffversprödung wird dabei immer eine besondere Herausforderung bleiben, da sie, wenn ihr nicht vorgebeugt wird, ein enormes Sicherheitsrisiko darstellt. 

Eine zentrale Rolle werden dabei einheitliche internationale Standards spielen. Die vom Bundeswirtschaftsministerium initiierte "Normungsroadmap Wasserstofftechnologien" ist ein erster Schritt, doch bis zur Umsetzung der darin formulierten Ziele ist es noch ein weiter Weg. Die Industrie braucht klare Vorgaben für Materialauswahl, Prüfverfahren und Wartungsintervalle. 

Die wire & Tube 2026 wird diese Entwicklung widerspiegeln: Besucher können sich hier über die neuesten Entwicklungen in der Werkstofftechnik, innovative Prüfverfahren und zukunftsweisende Beschichtungstechnologien informieren. Das breite Angebotsspektrum der Messe – von Rohrmaterialien über Prüftechnik bis hin zu kompletten Systemlösungen – bietet dabei einen gründlichen Überblick über den aktuellen Stand der Technik. 

Weitere Informationen zur wire & Tube 2026 finden Sie unter www.tube.de 

Quellen 

• Wackermann, K., Schweizer, F., Pfeiffer, W.: Wasserstoffversprödung metallischer Werkstoffe: Adsorption, Diffusion und Werkstoffeigenschaften. gwf Gas+Energie, 2-3/2019 

• Hannig, W.: Wasserstoffversprödung in Edelstahlrohren: Normen und Standards sind entscheidend. Interview. gwf Gas + Energie 01-02|2025 

• Bossard Group: Wasserstoffversprödung. White Paper, Zug 2020 

• Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK): Normungsroadmap Wasserstofftechnologien, Berlin 2024