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Thema des Monats Oktober 2012

 

Brasilien hofft auf die Binnennachfrage

Eigentlich hatte sich Brasilien prächtig von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise erholt. Während die Weltwirtschaft weiter vor sich hin dümpelte, verzeichnete das größte südamerikanische Land im Jahr 2010 rekordverdächtige 7,5 Prozent Wachstum.

(Photo: Curt Carnemark/Weltbank)

Doch schon 2011 fiel das Wachstum mit 3,5 Prozent deutlich bescheidener aus als im Vorjahr, und auch 2012 will die brasilianische Wirtschaft einfach nicht so richtig in Fahrt kommen.

Das erste Quartal des Jahres war bereits das dritte hintereinander mit schwachem Wachstum, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verzeichnet die Economist Intelligence Unit (EIU) ein Plus von nur 0,8 Prozent. Neben China und Indien schwächelt mit Brasilien damit ein weiteres bedeutendes Schwellenland. Nicht zuletzt die internationale Draht- und Kabelindustrie hat in den letzten Jahren große Erwartungen in den brasilianischen Aufschwung gesetzt. Waren die Hoffnungen verfrüht?

Wichtige Faktoren für die momentane Wachstumsschwäche sind laut der EIU-Experten ein nahezu stagnierender Dienstleistungs- und Industriesektor, die zusammen über 90 Prozent des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Vor allem der Export schwächelt, was hauptsächlich an der schlechten Konjunktur auf den wichtigen Absatzmärkten Europa, China und den USA liegt. Dazu kam wegen schlechten Wetters im ersten Quartal 2012 der größte Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion seit 2005.

Ein weiteres Problem ist die verhaltene Investitionstätigkeit. Unter anderem die Summe der ausländischen Direktinvestitionen (FDI) ist seit 2008 deutlich zurückgegangen, namentlich aus der EU, dem wichtigsten Herkunftsland. Erstmals flossen nach Angaben der Europäischen Kommission 2010 mehr FDI aus Brasilien nach Europa als umgekehrt. Der starke Real macht brasilianische Produkte zudem auf dem Weltmarkt vergleichsweise teuer.

Das bei weitem größte Problem jedoch sind die laut Germany Trade and Invest (GTAI) im internationalen Vergleich hohen Standortkosten. Unter anderem ein kompliziertes Steuersystem, die rückständige Infrastruktur und durch staatliche Abgaben verteuerte Energiepreise beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit brasilianischer Produkte erheblich. Im Global Competitiveness Report des Weltwirtschaftsforums belegt Brasilien nur den 48. Rang von 144 bewerteten Ländern.

Trotz dieser strukturellen Probleme gibt es auch Anlass zu verhaltenem Optimismus. Für eine Fortsetzung des Aufschwungs spricht vor allem der riesige, noch ungesättigte Binnenmarkt mit rund 190 Millionen Menschen. In den letzten zehn Jahren sind mehr als 20 Millionen Menschen aus der Armut in die Mittelklasse aufgestiegen. Deren Konsumfreude hat schon dazu beigetragen, dass Brasilien relativ unbeschadet durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen ist. Auch jetzt ist die Arbeitslosigkeit immer noch niedrig. Mit neuen Konjunkturmaßnahmen will die Regierung den heimischen Konsum einmal mehr auf Touren bringen.

Beispielsweise hat sie den gesetzlichen Mindestlohn im Januar 2012 um rund 14 Prozent angehoben. Staatliche Banken vergeben günstige Kredite, der Leitzins der brasilianischen Zentralbank befindet sich auf einem Rekordtief. Das Risiko externer Schocks etwa durch die EU-Staatsschuldenkrise hält die EIU auch deshalb für nicht so gravierend, weil Brasilien über beträchtliche Währungsreserven verfügt, mehr als vor dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008.

Mit als erste profitieren die bedeutende brasilianische Automobilindustrie und deren Zulieferer wie z.B. Draht- und Kabelhersteller von den Regierungsmaßnahmen. Günstige Kredite für den Autokauf sind ein wesentlicher Bestandteil des Konjunkturpakets. Seit vergangenem Juni zeigen die Maßnahmen Wirkung: Die Zahl der Autoverkäufe stieg im Vergleich zum Vormonat um satte 23 Prozent.

Weiteres Potenzial liegt für die brasilianische Draht- und Kabelindustrie im Energiesektor. Eine Reihe neuer Wasserkraftwerke und zahlreiche Windkraftanlagen sind im Bau, auch das Stromnetz muss dringend modernisiert und ausgebaut werden. Die vor der Tür stehende Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 bringen weitere erhebliche Infrastrukturmaßnahmen mit sich.



(Photo: Petrobras)

Ein bedeutendes Wachstumspotenzial hat auch die brasilianische Rohrindustrie. Vor Brasiliens Ostküste wurden in den letzten Jahren in rund 5000 Meter Tiefe gewaltige Mengen Rohöl entdeckt. Zusammen mit der Binnennachfrage soll der Ölreichtum dem brasilianischen Wirtschaftswachstum zusätzlichen Auftrieb geben. Nach den Plänen der brasilianischen Regierung sollen bis 2020 täglich mehr als sieben Millionen Barrel Rohöl fließen, womit Brasilien die USA als drittgrößten Ölproduzenten der Welt ablösen würde.

Trotzdem dürften längerfristig tiefgreifende Reformen unerlässlich sein, will Brasilien seinen Wachstumskurs fortsetzen. Die brasilianische Regierung indes hat in der Vergangenheit lieber zu protektionistischen Maßnahmen gegriffen als wichtige Reformen in Angriff zu nehmen. Beispielsweise hatte Brasiliens Regierung im vergangenen Jahr beschlossen, die Steuern auf importierte oder mit weniger als 65% nationalen Komponenten hergestellte Autos und Lastwagen um 30% zu erhöhen.

Die Maßnahme war Teil des Programms Brasil Maior, mit dem die einheimische Industrieproduktion stimuliert und der Verlust von Arbeitsplätzen ans Ausland verhindert werden soll. Zahlreiche Experten im In- und Ausland sind sich jedoch einig, dass der Industrie und der brasilianischen Wirtschaft mit sinkenden Produktionskosten weitaus besser geholfen wäre.

Florian Wassenberg





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