Prof. Dr.-Ing. Ingo Weidlich hat an der HafenCity Universität Hamburg (HCU) die Professur für Technisches Infrastrukturmanagement inne. Er arbeitet im Bereich der ingenieurwissenschaftlichen Forschung und begleitet die Entwicklung von Themen, die seit Jahren im Fokus stehen, insbesondere im Bereich Lifeline Infrastructure, also Infrastrukturen, die urbane Räume stützen, dazu gehören auch Trinkwasser, Abwasser, Wärmeverteilung und Energieversorgung. Der besondere Fokus von Prof. Weidlichs Untersuchungen liegt im Bereich der Fernwärme.
Herr Prof. Weidlich, was sind aktuell die spannendsten Fragen für Sie im Bereich der Fernwärme? Welche Rolle spielt die Fernwärme im Zukunftsszenario Energiewende?
Prof. Dr. Ingo Weidlich: Die Schlagworte lauten hier Sektorenkopplung, Fernwärme 4.0 und die smarte Verknüpfung der Infrastrukturen Wärme, Strom und Gas, Power-to-Fernwärme. Im Bereich der Wärmeversorgung von Städten und Kommunen hat ein Umdenken stattgefunden. Die Energiewende darf nicht länger nur primär mit der elektrischen Energieversorgung verknüpft werden. Auch im Bereich der Wärmeversorgung ist eine Energiewende erforderlich.
Wie kann die Wärmewende gelingen? Welche Bedingungen müssen geschaffen werden?
Weidlich: Fernwärme aus erneuerbaren Energien gilt als eine der Schlüsseltechnologien zum Gelingen der Wärmewende in Deutschland. Um ihr gesamtes Potenzial zur Dekarbonisierung ausschöpfen zu können, ist zunächst jedoch eine Weiterentwicklung und Qualifizierung der Fernwärme-Infrastruktur erforderlich. Im Großen und Ganzen kann man es sich einfach nicht leisten, den Wärmemarkt nicht
zu berücksichtigen. Der Anteil der Erneuerbaren Energien bei der Wärme in Deutschland liegt bei ca. 15 %. Das ist ein Riesenhebel, weil hier so viel Potential noch nicht ausgeschöpft ist. Welcher Prozentanteil bei „grüner“ und damit klimaneutraler Fernwärme realistisch ist, muss man noch schauen, aber hier muss dringend nachgearbeitet werden. Denn ohne das Thema Wärme gelingt die Energiewende nicht. Und im Bereich Sektorenkopplung hat man es ja immer mit Wärme zu tun, sei es über die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) oder auch über die Abwasserwärme, wenn man die Sektorenkopplung konsequent mit Abwassersystemen denkt, und natürlich generell die industrielle Abwärme, die ansonsten verloren wäre. Auch Elektrolyseure für sogenannten „grünen“ Wasserstoff dürfen nicht ohne Abwärmekonzepte geplant werden.
In Deutschland und auch in Europa entfällt rund die Hälfte unseres Primärenergiebedarfes auf die Wärme. Andererseits gibt es ein erhebliches ungenutztes Abwärmepotential. Deshalb ist es dringend erforderlich, Angebot und Bedarf an dieser Stelle zusammen zu bringen. Möglich ist dies aber nur durch eine Veränderung der Erzeugungsinfrastruktur und der Wärmeverteilnetze.
Nordrhein-Westfalen verfügt über große Fernwärmenetze, die überwiegend industrielle Abwärme aus Kohlekraftwerken nutzen. Was sind die Alternativen für den Kohleausstieg und der Nutzung dieser industriellen Abwärme für die Wärmeversorgung? Sind Gaskraftwerke die Lösung, oder wie werden die Fernwärmenetze künftig betrieben?
Weidlich: Der Kohleausstieg ist beschlossen. Während dieser Transformationsphase werden Alternativen benötigt. Da gibt es viele Optionen: Gaskraftwerke, Blockheizkraftwerke, generell dezentralere Strukturen.
Interessant ist z. B. die Abwärme aus industrieller Nutzung. Ein Paradebeispiel dafür ist die Kupferhütte Aurubis in Hamburg, die die industrielle Abwärme ins städtische Fernwärmenetz einspeist und verfügbar macht. In Hamburg sollen ab der Heizperiode 2024/25 rund 20.000 Haushalte mit CO2-freier Industriewärme aus der Kupferproduktion der Aurubis AG beliefert werden. Das ist Bestandteil eines Wärmeliefervertrags, den Aurubis und Hamburger Energiewerke im Dezember 2021 unterzeichnet haben.
Der Einsatz der CO2-freien Industriewärme im Fernwärmenetz der Hansestadt verdrängt Wärme, die heute noch aus fossilen Brennstoffen erzeugt wird. So können ab 2025 jedes Jahr bis zu 100.000 t CO2-Emissionen in Hamburg eingespart werden. Diese angestrebte Wärmelieferung stellt die größte Nutzung von industrieller Wärme in Deutschland dar.
Noch ein aktuelles Beispiel aus Hamburg: Das alte Heizkraftwerk Wedel soll ersetzt werden durch den „Energiepark Hafen“. Im Energiepark Hafen soll aus verschiedenen Industrien Abwärme gesammelt werden. Diese Wärme wird dann gebündelt über eine Fernwärmeleitung unterhalb der Elbe in die lange FW-Leitung Richtung Innenstadt transportiert. Die Idee, Abwärme dezentral einzusammeln, ist einleuchtend, praktikabel und gut übertragbar z. B. auf Rostock oder andere Hafenstädte. Dafür muss man vorab Wärmekataster erstellen, wie es in Hamburg der Fall ist, um detailliert die Kraftwerksstandorte und Abwärmepotentiale herauszuarbeiten.
Was würden Sie denn machen, im Zuge der Transformation der Energiesysteme?
Weidlich: Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir es ähnlich denken wie unser Nachbarland Dänemark. Dort werden alle fossilen Brennstoffe stark besteuert und damit gleichzeitig technologieoffen alle erneuerbaren Energien gefördert. Bezogen auf Deutschland sollte man die Energiewende nicht nur mit einer Brille z. B. der Wasserstofftechnologie-Brille betrachten und sich auf eine Energieform fokussieren, sondern sich breit aufstellen und fördern.
Das richtige Konzept lässt sich nicht pauschalisieren, es hängt immer sehr stark von den lokalen Gegebenheiten ab, das gilt für Geothermie, Solarthermie, BKHW oder KWK in Zusammenhang mit Biomasse oder Überschuss-Strom mit Power-to-Heat. Wenn man einen erneuerbaren Brennstoff zur Verfügung hat, z. B. Holzhackschnitzel, oder dergleichen in der Nähe bekommt, z. B. durch einen nahe gelegenen Wald, und das zusammenpasst mit dem Siedlungsgebiet, dann sind BHKW sicherlich eine gute Lösung, z. B. in Wächtersbach im Main-Kinzig-Kreis. In dem dortigem Biomassekraftwerk mit 12 MW Leistung werden Holzhackschnitzel verfeuert und mehr als 1.100 Haushalte mit Fernwärme versorgt. Sobald aber eine Siedlung wächst und mit ihr der Energiebedarf, wird es mit der Beschaffung von Brennstoff in Form von Biomasse schwieriger.
Beispiel Solarthermie: Große solarthermische Felder gibt es sogar in Nordeuropa, z. B. auch im Nachbarland Dänemark. Die entscheidende Frage bei Solarthermie ist, wo gibt es ausreichend Platz für Sonnenkollektoren? Die Dachflächen in einer Großstadt wie Hamburg würden nicht ausreichen, also wohin passen die Sonnenkollektoren? Die Diskussionenum die Flächen für die Infrastruktur für Erneuerbare Energien müssen wir führen.
In NRW wurde kürzlich die Landesbehörde „Energy4Climate“ als Nachfolger der Energieagentur NRW gegründet, um die Energiewende in NRW zu begleiten und die Industrie und die Kommunen zu unterstützen. Welchen Tipp haben Sie für die neue Landesbehörde?
Weidlich: Sinnvoll wäre es auch hier, die Wärmepotentiale landesweit zu heben und Wärmekataster zu erstellen, wie das in Hamburg der Fall ist. NRW ist dicht besiedelt, hat hohe Energiebedarfe und viel Industrie mit Abwärmepotentialen. Das miteinander zu verschneiden, wäre aus meiner Sicht eine wichtige Aufgabe.
Was lässt sich zum Bestand und Zustand des Fernwärmenetzes sagen? Wie hoch ist die technische Lebensdauer / Nutzungsdauer der Leitungen?
Weidlich: Laut Normung wird eine Nutzungsdauer von 30 Jahren bei Fernwärmeleitungen vorgegeben. Danach wird bemessen. Allerdings gibt es heute bereits viele Fernwärmeleitungen, die die 30 Jahre überschritten haben. Sie sind zum Teil bereits 50 Jahre alt und in Sachen Funktionalität und Qualität kaum zu beanstanden, wenn man sie entsprechend betreibt, also sie z. B. nicht schlagartig zu hoch belastet.
Bei Kunststoffmantelrohren (KMR) sind je nach Betriebsweise durchaus 50 bis 70 Jahre Lebensdauer der Erwartungshorizont der Unternehmen. Das heißt zwischen Normung und tatsächlicher Nutzungsdauer entsteht ein Spannungsfeld und große Unsicherheit darüber, wie lange die Leitungen noch halten. Die Einschätzung der tatsächlichen Nutzungsdauer von Fernwärmeleitungen ist schwierig. Das erschwert es für Leitungsbetreiber, Instandhaltungsstrategien für Wärmenetze zu erstellen. Je größer das Wärmenetz, desto größer sind diese Unsicherheiten für die Planung der Unternehmen, je dringlicher werden zuverlässige Instandhaltungsstrategien benötigt.
Im Bereich Fernwärmenetze kann man auch noch aus dem Bereich der Abwassernetze lernen. Im Bereich Abwasser gibt es viel genauere und mehr Daten zum Zustand der Netze, Informationen, Auswertungen und Berechnungsmodelle. Solche Modelle werden auch im Bereich des Fernwärmenetzes benötigt und daran wird gearbeitet.
Welche Daten liegen vor und was ist in Arbeit?
Weidlich: Seit einigen Jahren baut der Fachverband AGFW eine Schadensstatistik für Wärmenetze auf, die bereits erste Aussagen für eine Instandhaltungsstrategie erlaubt. Es ist die einzige bekannte umfassende Schadensstatistik für Wärmenetze in Deutschland. Mit dem Forschungsprojekt FW-Instandhaltung (Anm. der Redaktion: „Entwicklung von neuen und verbesserten Instandhaltungsstrategien für kleine und große Wärmenetze durch Kombination statistischer Alterungsmodelle mit materialbasierten Nutzungsdauermodellen“) an der HCU werden nun statistische Auswertungen vorhandener Schadens- und Störungsdaten durch zusätzliche Stützpunkte z. B. aus thermischen Alterungsmodellen für die Dämmung als auch Schadensakkumulationstheorien ergänzt.
Die Algorithmen werden an realen Wärmenetzen getestet und weiterentwickelt. Ziel ist es, diese verbesserten Instandhaltungsstrategien zu entwickeln und der Branche zur Verfügung zu stellen.
Fernwärmesysteme sind robuste Systeme, ausgelegt auf lange Lebensdauer. Es gibt verschiedene Effekte, z. B. dass der Schaum aufgrund der Temperaturlast altert, dass der Stahl ermüdet aufgrund von Wechsellasten und auch noch andere wechselseitige Effekte, die man in der Schadensstatistik so nicht sehen kann. So sind wir auf die Idee gekommen, dass man die Mechanismen und Prognosen der Statistik mit den materialbasierten Modellen miteinander verschneidet, damit man dann zu präzisen Aussagen zur Lebensdauer gelangt, wie lange die Systeme halten. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz werden die Netze untersucht, wie lange sie noch halten. Darin fließen z. B. auch Wetterdaten mit ein. So wollen wir da präziser werden als das allein mit Schadensstatik möglich ist. Also gekoppelte Alterungs- bzw. Prognosemodelle, die sich dann wiederum auch auf andere Netze, wie z. B. Abwassernetze übertragen lassen.
Was tut sich sonst so auf dem Fernwärmemarkt? Welche technischen Entwicklungen
stehen dem Markt bevor, die Sie sehen?
Weidlich: Die verstärkte Einbindung erneuerbarer Energiequellen in Fernwärmenetze geht mit betrieblichen Veränderungen wie etwa der Absenkung der Betriebstemperatur einher. Ich denke, dass im Bereich des Absenkens des Temperaturniveaus viel passieren wird – einerseits wegen des Sicherheitsaspekts, andererseits bezüglich der Materialauswahl.
Zur Sicherheit: Je geringer die Temperaturen, desto weniger ausgeprägt sind Verformungen, und desto unschädlicher ist es, wenn an einer Fernwärmeleitung ein Schaden auftritt.
Zur Materialauswahl: Je geringer die Temperaturen, desto mehr Materialien kommen in Frage, auch solche, über die man noch im Bereich der Fernwärmeleitungen nicht nachgedacht hat, die vielleicht umweltfreundlicher sind und die klassischerweise in der Fernwärme noch nicht verwendet wurden.
Es gibt eine Vielzahl innovativer Techniken im Leitungsbau, die eine kostengünstige und zugleich effiziente und ökologische Wärmeversorgung ermöglichen.
Das kann z. B. die Dämmung sein, für die im Sinne der Kreislaufwirtschaft akzeptablere Schäume eingesetzt werden, das kann aber auch die Verbindung mit Pressverbindern sein, die mit geringeren Lasten ein „leichteres Spiel“ haben als mit hohen Lasten. Das kann im Medienrohrbereich der Wechsel von Stahlrohren auf Kunststoffrohre sein. Das gibt’s viele Möglichkeiten, auch hin zu einem schnelleren und damit wirtschaftlicheren Bauen. Das ist genau das, was wir brauchen. Fernwärme ist immer noch mit der teuerste Leitungsbau aufgrund der Schweißarbeiten und des Tiefbaus. Den Ausbau der Fernwärmenetze preiswerter hinzubekommen, ist wichtig für die Energiewende und den Wärmemarkt.
Dazu gehören auch der Bereich grabenlose Verfahren und der Einsatz von ZFSV…
Weidlich: Genau, das sind Bereiche, in denen wir auch unterwegs sind. Fernwärmenetze sind in den allermeisten Fällen erdverlegte Systeme. Wenn man auf das Bettungsmaterial schaut, kann man an fließfähige Verfüllmaterialien denken, aber auch an Recyclingbaustoffe, so etwas wie Recyclingsande. Es muss nicht immer fließfähiges Material sein, es kann auch konventionelles Recyclingmaterial sein. Das Problem ist einfach die Akzeptanz, dass man auch auf Behördenseite die Entwicklung vollzieht, dass man so etwas auch öfter mal zulässt und mit Recyclingbaustoffen Gräben verfüllt werden dürfen. Denn wir können es uns auf Dauer nicht leisten, alles immer nur mit Natursand bzw. Z0-Sand zu verfüllen.
Vom ressourcenschonenden Recycling zur letzten Frage, die mit dem Klimawandel zusammenhängt. Fernkälte ist, analog zur Fernwärme, die Versorgung mit Kälte über eine Rohrfernleitung. Kühlung in den Städten wird durch den Klimawandel immer wichtiger. Wie kann man das mit Fernwärmenetzen abbilden? Wie sehen Sie die Zukunft von Fernkältenetzen?
Weidlich: Die Kälteversorgung wird durch den zunehmenden Klimawandel und die Entstehung von Hitzeinseln in Städten ein Riesenthema werden. Wenn die Städte schon jetzt im Sommer immer heißer werden, benötigen wir also immer mehr Kälte. Der Kältebedarf übersteigt sogar bei manchen Gebäuden den Wärmebedarf. Die Frage ist also, wie machen wir das jetzt? Das ist dann ähnlich wie bei der Wärme: Die Frage ist, wo lässt sich Kälte effizient einsammeln?
Fernkältenetze gibt es bis jetzt in Städten wie Berlin, Hamburg oder München, aber nur relativ kleine. Die Frage ist: Muss so ein Markt nicht noch deutlich wachsen? Und wenn ja, wie? Man muss schauen, wo sind Potentiale, woher kann die Kälte kommen? Free cooling: Es wird Kälte aus Seen, Flüssen oder dem Meer gewonnen, oder man nutzt Kälte aus dem Untergrund aus tieferen Bodenschichten. Die bereits entwickelten und etablierten, vorwiegend zur Gebäudekühlung eingesetzten Kompressionskältemaschinen weisen einen hohen Strombedarf auf. Ist dieser Strom nicht zu schade, wenn wir andere Kältepotenziale nutzen könnten? Eine andere Alternative zu Kompressionskälte bieten mit Wärme angetriebene Absorptionskältemaschinen, die energetisch und ökologisch vorteilhafter sind, vor allem wenn Abwärme vorhanden ist, und als Antriebsenergie genutzt werden kann. Diese Kältemaschinen können entweder direkt bei den Gebäuden errichtet und betrieben werden (dezentrale Kälteversorgung), oder mehrere Objekte über ein Fernkältenetz versorgen (zentrale Kälteversorgung).
Wagen wir einen kleinen Ausblick in die Zukunft: Heute gibt es laut Schätzungen rund 30.000 km Fernwärmenetz. Wie wird es 2050 Ihrer Meinung nach aussehen?
Weidlich: Das lässt sich schwer sagen, das ist abhängig von verschiedenen Entwicklungen und Rahmenbedingungen. Aber ich schätze, dass die Fernwärmenetze sicherlich bis 2050 um 10 % zulegen werden und möglicherweise rund 30 % zulegen müssen, wenn man die Energiewende ernst nimmt.
Durch die neue Bundesregierung entsteht gerade ein gewisser Drive. Ein Rückbau der Fernwärmenetze ist nicht sinnvoll, ein Ausbau der Netze muss kommen, denn Fernwärme lohnt sich.
Prof. Weidlich, vielen Dank für das Interview.