Die additive Fertigung hat sich in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt. Dr. Horst Hill ist als Leiter der Abteilung Sonderwerkstoffe bei den Deutschen Edelstahlwerken (DEW) unmittelbar an der Forschung beteiligt. Zudem lehrt er Additive Manufacturing an der Technischen Hochschule Georg Agricola in Bochum. Im Interview mit stahl. erklärt er, welche Rolle die additive Fertigung für die Stahlbranche spielt, welche Entwicklung er dem Verfahren prophezeit und wie sich Massenmarkt und Individualisierung vereinbaren lassen. Die DEW gehören zu den weltweit führenden Herstellern und Verarbeitern von Spezialstahl-Langprodukten und sind Teil der Swiss Steel Group.
stahl.: Herr Hill, welchen Stellenwert hat additive Fertigung aktuell für die Stahlbranche?
Dr. Horst Hill: Angesichts aktueller Rahmenbedingungen wie den gestiegenen Energiekosten gibt es auf den ersten Blick dringendere Themen für die Stahlbranche. Bei genauerer Betrachtung ist es jedoch so, dass die additive Fertigung beispielsweise durch angepasste Bauteile einen Beitrag zu Ressourcenschonung und Prozessoptimierung leisten kann. Somit profitiert die Stahlbranche von der additiven Fertigung im gleichen Maße wie andere Branchen. Jedoch muss man die oft hohen Bauteilgrößen der Stahlbranche berücksichtigen.
Könnte man sagen: je größer die Bauteile, desto weniger relevant die additive Fertigung?
Das kann man als grobe Orientierung schon so sagen. Die zur Verfügung stehenden Bauraumgrößen steigen jedoch kontinuierlich. Aktuell liegt das Limit in der Größenordnung von ca. 600 x 600 x 600 mm. Daraus wird ersichtlich, dass viele Bauteile, die zum Beispiel in einem Walzwerk verwendet werden, nicht ohne Weiteres additiv zu fertigen sind. Die Baukammergröße ist entscheidend.
Inwiefern können angepasste Bauteile die Energieeffizienz erhöhen?
Entscheidend ist die Individualisierung der Bauteile. Im 3D-Druck können diese entsprechend den Anforderungen einer Anlage angepasst werden. So kann die Effizienz gesteigert werden, zum Beispiel im Falle von konturnahen Kühlkanälen. Oder auch im Bereich von Hydraulikkomponenten durch strömungsoptimierte Leitungen, so dass weniger Öldruck erzeugt werden muss.
Wie hat sich die additive Fertigung im Laufe der vergangenen Jahre verändert?
Die additive Fertigung hat ihr Potential in den letzten Jahren vor allem anhand ihrer „Vorzeigeindustrien“ Luftfahrt und Medizintechnik bewiesen. Aber noch ist sie nicht in allen Industriezweigen gleichermaßen angekommen. Anwender, Anlagenhersteller und Werkstoffhersteller wie wir wollen das ändern. Unsere Kernkompetenz ist dabei das Material als solches. Wir entwickeln neue Werkstoffzusammensetzungen für den 3D-Druck, um weitere Anwendungen zu erschließen und neue Eigenschaftsprofile zu erzeugen. So kann die additive Fertigung auch für die Stahlbranche relevanter werden. Schaut man sich jedoch die vorhandenen Werkstoffe an, sieht man, dass klassische Werkzeugstahlwerkstoffe noch immer kaum verfügbar sind.
Und woran liegt das genau?
Diese lassen sich, wenn überhaupt, nur sehr schwierig verarbeiten. Werkzeugstähle weisen in der Regel hohe C-Gehalte auf und sind daher nur bedingt schweißbar. Der 3D-Druck-Prozess mittels Laser ist im Prinzip eine Art „Mikroschweißen“. Der Laser heizt ein kleines Volumen schnell auf, gefolgt von einer schnellen Erstarrung. C-reiche Werkstoffe neigen zur Martensitbildung. Die entstehenden Spannungen können dann irgendwann nicht mehr abgebaut werden und es kommt zur Rissbildung. Wir als Materialhersteller haben uns daher vorgenommen, neue Werkstoffe gezielt an die Rahmenbedingungen der neuen Prozesse anzupassen. Das Ergebnis kann eine neue Werkstoffzusammensetzung sein, die nur im 3D-Druck funktioniert und konventionell gar nicht mehr.
Was sind typische Eigenschaften, die Ihre neuen Werkstoffe besitzen?
Kaum vertreten sind Werkstoffe, die größer als 55 HRC nach Wärmebehandlung eingesetzt werden können. Wenn man über 60 HRC schaut, was als klassische Grenze gilt, ist nichts standardmäßig verfügbar. Das ist ein Feld, welches wir beispielsweise mit neuen Werkstoffentwicklungen adressieren. Die Anlagentechnik entwickelt sich weiter, was eine bessere Verarbeitung von Werkstoffen ermöglicht. Aber der Werkstoff muss ebenfalls angepasst werden, um das volle Potential auszuschöpfen.
Was meinen Sie, ist additive Fertigung für zukunftsorientierte Unternehmen unverzichtbar?
Ja, definitiv. Davon bin ich überzeugt. Sie wird bestehende Verfahren nicht substituieren, aber ergänzen. Hier findet eine technologische Diversifizierung statt. Der Pluspunkt der additiven Fertigung ist die Komplexität und Individualisierung, die mit anderen Verfahren nicht darstellbar ist. In Prozessen, bei denen dies eine Rolle spielt, wird additive Fertigung ein wesentlicher Bestandteil werden. Es gibt bereits große Industrien, die additive Fertigung großflächig einsetzen. Andere werden sukzessive nachziehen. Inzwischen werden schon Fahrradteile additiv gefertigt. Das zeigt: der Trend geht von Sonderanwendungen wie der Implantat-Technik hin zu Alltagsthemen.
Führt der Trend weg von Sonderanwendungen?
Das kann man so sagen. Zwei Beispiele aus der Automobilindustrie, die das verdeutlichen: Bugatti hat gedruckte Bremssättel vorgestellt, Porsche gedruckte Kolben. Auf diesem Weg hält die Innovation durch den 3D-Druck Einzug und wird weiter vorangetrieben. Sicherlich sprechen wir hier noch von Sonderanwendungen, es wird jedoch an der wirtschaftlichen Massenfertigung gearbeitet. Wichtige Hebel hierbei sind die Druckgeschwindigkeit und die Automatisierung.
Das führt uns zum Thema Dekarbonisierung. Kann additive Fertigung hier einen Beitrag leisten?
Gewiss doch, hierzu tragen optimierte und anlagenspezifisch angepasste Bauteile bei. Der Gasverbrauch von Brennern bei der Wärmebehandlung von Stahl kann beispielsweise durch den Einsatz von gedruckten Brennern bzw. Komponenten reduziert werden. Das hat einen direkten Einfluss auf die
CO2-Emissionen. Viele Brennerhersteller beschäftigen sich mit dem Thema 3D-Druck, weil man sich davon Effizienzsteigerung verspricht. Die Designfreiheit führt dazu, dass man Wärmetauscher besser
auslegen kann. Damit lässt sich die Abwärme besser nutzen, die wiederum bei der Gas-Vorwärmung zur Anwendung kommt. Damit braucht man in Summe deutlich weniger Energie.
Wo steht additive Fertigung aktuell in Punkto wirtschaftlicher Relevanz?
Bei additiver Fertigung denkt man schnell an hohe Kosten bzw. kostenintensive Bauteile. Sofern jedoch nicht nur der Einkaufspreis verglichen wird, trifft das nicht allgemeingültig zu. Am Ende gilt es, die Total Cost of Ownership zu betrachten. Wenn ein gedrucktes Produkt doppelt so teuer ist wie das konventionell gedruckte, muss es mindestens doppelt so lang halten, damit sich die Anschaffungskosten in Standzeitgewinn umlegen lassen. Wenn man dann noch das Hoch- und Runterfahren von Anlagen einspart, hat man schnell einen wirtschaftlichen Vorteil.
Die Ersparnis bezieht sich also weniger auf die Material- als auf die Betriebskosten?
Genau. Es gibt durchaus Beispiele für 3D-gedruckte Bauteile, die günstiger sind als konventionelle Bauteile. In der Regel erhält man den wirtschaftlichen Vorteil aber über die längere Lebensdauer der weiteren Prozesse oder durch bessere Eigenschaften im Einsatz. Die Anlagentechnik für den 3D-Druck ist recht teuer; die Druckgeschwindigkeit gering. Das treibt den Stückpreis nach oben. Teure Bauteile können aber wirtschaftlich sinnvoll sein, wenn die Verfügbarkeit der Anlage, in der sie eingesetzt werden,
steigt.
Wird sich additive Fertigung zu einem Massenmarkt entwickeln?
Ich glaube nicht in naher Zukunft, man arbeitet jedoch stark daran. Es wird sicherlich ein größerer Entwicklungssprung in Richtung Massenmarkt kommen. Kürzlich fand das Additive Manufacturing Forum Berlin statt, auf dem BMW in einer Keynote die Zukunft der additiven Fertigung skizziert hat. Diese Zukunft war unter anderem durch einen hohen Grad an Automatisierung (und auch Standardisierung)
gekennzeichnet. Und unter Zukunft verstehen wir hier einen Zeithorizont von wenigen Jahren.
Welche Industriezweige können am meisten von additiver Fertigung profitieren?
Es gibt derzeit Industriezweige, die additive Fertigungsmöglichkeiten intensiver nutzen als andere. Am Ende stellt sich jedoch die Frage: Warum sollten gewisse Industriezweige darauf verzichten?
Wie entwickeln Sie bei der DEW Druckzeit und Qualität Ihrer Werkstoffe?
Als Pulverhersteller stehen bei uns das Pulver und die Werkstoffzusammensetzung im Fokus der Optimierungsmaßnahmen. In Kombination mit geschickter Parameteranpassung am 3D-Drucker kann die Druckzeit deutlich reduziert werden. Pulverherstellung bedeutet für uns mehr als ‚nur‘ additive Fertigung. Wir beliefern unterschiedliche Märkte mit insgesamt ca. 200 verschiedenen Werkstoffen. Und ‚Entwicklung‘ ist genau das richtige Stichwort mit Blick auf die Zukunft. Neue Werkstoffe mit verbesserten Eigenschaften, mit denen neue Anwendungsmöglichkeiten erschlossen werden können – dahin soll die Reise gehen.
Wohin muss sich additive Fertigung insgesamt entwickeln, um an Relevanz zu gewinnen?
Ein großer Kritikpunkt ist aktuell die fehlende Massenmarkt-Kompatibilität. Daran wird gearbeitet wie zuvor schon erwähnt. Ein weiteres Schlüsselwort, welches auf Fachkonferenzen immer mehr zu hören ist, ist die ‚Mass-Individualization‘.
Ist ‚Massen-Individualisierung‘ nicht ein Widerspruch in sich?
Nein - zumindest nicht vor dem Hintergrund der additiven Fertigungsmöglichkeiten. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Automobil vor, dass 100.000 mal verkauft wird. Eine Individualisierung wäre jetzt, wenn der Hersteller dem Kunden anböte, seinen Vor- und Zunamen im Innenraum zu platzieren. Der Hersteller druckt somit 100.000 Namensschilder - eine Massenanwendung, die jedoch maximal individualisiert
ist. Das ist jetzt natürlich nur ein sehr theoretisches Beispiel, ein praxisnäheres Beispiel liefert die Firma adidas. Die Mittelsohle von Laufschuhen wird gedruckt und dabei an die Anforderungen des jeweiligen Sportlers angepasst.
Herr Hill, vielen Dank für das Gespräch.