„Wir revolutionieren die Beschichtung ultrahochfester Stähle mit Vakuumtechnologie“
Mit einem neuen, bahnbrechenden Vakuumbeschichtungsverfahren präsentiert sich die SMS group als Technologieführer in der Vakuumbeschichtung von Stahlbändern für anspruchsvollste Anwendungen. In ihrer einzigartigen Pilotanlage in Karlstein am Main entwickelt der Anlagenbauer gemeinsam mit der SITIZN Group Holding AG im Joint Venture NEOVAC innovative Verfahren zur physikalischen Gasphasenabscheidung (PVD) und durchbricht damit die bisherigen Grenzen konventioneller Beschichtungsverfahren. Im Exklusivinterview mit heat processing präsentieren Dr. Holger Behrens (Executive Vice President Flat Products, SMS group), André Herzog (CTO NEOVAC) und Tim Ovelgönne (CEO NEOVAC) ihre revolutionäre Technologie und ihr Potenzial für die Industrie erstmals einer breiten Öffentlichkeit.
hp: Nach drei Jahren intensiver Entwicklungsarbeit präsentieren Sie Ihre Vakuumbeschichtungstechnologie nun erstmals öffentlich. Was hat Sie davon überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist?
Dr. Holger Behrens: Für bedeutende Entwicklungen ist es wichtig, die Technologie sicher zu beherrschen und die physikalischen Zusammenhänge zu erarbeiten, bevor wir Kunden und den Markt ansprechen. In den letzten zwei Jahren haben wir auf unserer Pilotanlage verschiedene Versuche zur Bandbeschichtung von Stahlbändern durchgeführt und dabei sehr gute und reproduzierbare Ergebnisse erzielt. Daher können wir nun Testmaterial von interessierten Kunden beschichten und die Möglichkeiten dieses Verfahrens demonstrieren. Wir bieten den Vorteil, Oberflächenbeschichtungen mit Zink im Durchlaufverfahren für Bandbreiten bis zu 650 mm durchführen zu können.
hp: Welche Herausforderungen der klassischen Beschichtungstechnologie haben Sie mit Ihrer neuen Anlage adressiert?
Tim Ovelgönne: Wir haben zwei grundlegende Probleme der konventionellen Verzinkung gleichzeitig gelöst. Bei ultrahochfesten Stählen mit 1200 bis 1900 MPa Zugfestigkeit versagen sowohl die Feuerverzinkung als auch die elektrolytische Verzinkung. Bei der Feuerverzinkung bei 460 °C können sich die Materialeigenschaften negativ verändern – der Stahl verliert an Zugfestigkeit. Bei der elektrolytischen Verzinkung kann prozessbedingt Wasserstoff entstehen, der zu Materialversprödung führen kann. Unser Vakuumbeschichtungsprozess läuft als „Kaltprozess“ unter 200 °C ab. Dadurch können wir erstmals hochempfindliche Stahllegierungen beschichten, ohne deren Eigenschaften negativ zu beeinflussen.
hp: Was macht Ihre Vakuumbeschichtungstechnologie im Vergleich zu bereits bestehenden Verfahren so revolutionär?
André Herzog: Entscheidend ist die quasi-kalte Beschichtung, die eine vollständige Entkopplung der thermischen Materialbehandlung von der Beschichtung ermöglicht. Durch den geringen Wärmeeintrag im Beschichtungsprozess werden die Materialeigenschaften des Coils nicht mehr verändert. Die Beschichtung funktioniert ähnlich wie ein hochpräziser Lackierprozess: Das Stahlband durchläuft zunächst eine Nassreinigung und wird anschließend ins Vakuum eingebracht. Dort beginnt der eigentliche Vakuumprozess mit einer Plasmavorbehandlung zur Feinreinigung des Bandes. Anschließend wird mittels Magnetronsputtern eine Vorbeschichtung, vergleichbar mit einem Primer, aufgebracht. Der entscheidende Schritt ist das thermische Verdampfen: Zink wird verflüssigt und über ein Düsensystem kontrolliert aus der Dampfphase aufgetragen. Wie Wasserdampf, der auf einem Kaltlichtspiegel kondensiert – nur präzise steuerbar.
hp: Das klingt sehr komplex. Können Sie den praktischen Ablauf in Ihrer Anlage beschreiben?
Herzog: In unserer Pilotanlage wird ein unbeschichtetes Coil in die Vakuumanlage eingebracht, die Kammer geschlossen und evakuiert. Im Produktionsmaßstab kann dieser Schritt natürlich auch inline erfolgen, um einen kontinuierlichen Prozess zu ermöglichen. Anschließend erfolgt die dreistufige Beschichtung des Stahlbandes – Plasmareinigung, Vorbeschichtung, Verzinkung – in einem kontinuierlichen Prozess. Ein zentraler Punkt ist dabei die von uns entwickelte Plasma-Enhanced-Evaporation, ein neuartiges Aufdampfverfahren, mit dem sich die Schichteigenschaften gezielt beeinflussen lassen. Anschließend wird das Band wieder aufgewickelt, die Anlage geflutet und das Coil entnommen. Im Schichtbetrieb können 5–6 Coils in 24 Stunden beschichtet werden, mit bis zu 5 Tonnen pro Coil.
hp: Gibt es nicht bereits PVD-Verfahren auf dem Markt? Worin unterscheidet sich Ihr Ansatz?
Ovelgönne: Es gibt bereits kommerzielle PVD-Verfahren wie die Jet Vapor Deposition, die aber nicht für ultrahochfeste Stähle ausgelegt sind. Unsere Anlage hat bereits erfolgreich Metallbänder mit einer Zugfestigkeit von >1.500 MPa beschichtet. Wir haben den Prozess von Grund auf neu entwickelt: Wie die Prozessschritte hintereinandergeschaltet sind, wie wir die Verdampfung organisieren, wie die Vorbeschichtung abläuft – das ist unser spezifisches Know-how. Das Verfahren ist daher sehr interessant für ultrahochfeste Werkstoffe und auch für Umformstähle mit hohen Anforderungen an Korrosionsschutz und Oberflächengüte.
hp: Aber warum gerade ultrahochfeste Stähle? Wie sind Sie zu diesem speziellen Marktsegment gekommen?
Dr. Behrens: Der Anstoß kam von Partnern aus der Stahlindustrie. Sie wiesen uns auf ein Problem bei der Verzinkung hochfester Stähle mit beispielsweise martensitischen Gefügen hin. Gerade bei diesen Stahlsorten können die genannten Nachteile und Einschränkungen wie Entfestigung und Versprödung auftreten. Darüber hinaus liefert der Anwendermarkt, also die Stahlverarbeiter und Presswerke als Kunden unserer Kunden, natürlich zusätzliche Impulse für unsere Entwicklungsschwerpunkte. Automobilhersteller beispielsweise verwenden Bleche einer bestimmten Qualität mit komplexen Eigenschaften – daraus leiten wir ab, welche Technologie unser Kunde, der Stahlhersteller, benötigt. Unser Verfahren eignet sich für die genannten Stahlsorten sowie für andere Stähle und Metalle.
hp: Das klingt logisch, aber die Umsetzung war sicher nicht einfach. Welche technischen Herausforderungen mussten Sie bewältigen?
Ovelgönne: Eine zentrale Herausforderung ist der Temperaturgradient: Das Zink wird bei über 600 °C verdampft, das Band bleibt jedoch unter 200 °C. Bei einem so hohen Temperaturgradienten muss die Schicht sehr schnell und kontrolliert aufgetragen werden. Wir müssen ein gerichtetes Schichtwachstum mit definierten Korngrößen erreichen, damit die Schicht bei der späteren Umformung der Bleche vollständig haftet und nicht bricht – sonst wäre der erforderliche Korrosionsschutz nicht ausreichend gewährleistet.
Herzog: Durch die Zusammenarbeit in unserem Joint Venture NEOVAC haben wir einen Stahlanlagenbauer mit einem Spezialisten für Vakuumtechnik zusammengebracht – das ist eigentlich diametral entgegengesetzt, aber wir haben eine Technologie geschaffen, mit der wir einen wichtigen Schritt in Richtung Qualität machen. Hinter dem Joint Venture stehen zwei extrem starke Partner: SMS als Experte im Anlagenbau und das Know-how der SITIZN group Holding AG mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Vakuumtechnik.
hp: Wenn ich das richtig verstehe, ist Ihre Pilotanlage mit 170 Tonnen Gewicht und 15 Metern Höhe recht beeindruckend dimensioniert. War diese Größe von Anfang an geplant?
Ovelgönne: Innerhalb von dreieinhalb Jahren haben wir diese Anlage mit unserem Expertenteam konzipiert, gebaut und in Betrieb genommen. Von Anfang an wollten wir eine Anlage schaffen, die industriellen Anforderungen gerecht wird und Testmaterial für Kundenanwendungen wie Automobilpresswerke produzieren kann. Unsere Anlage kann Stahlcoils mit einer Zugfestigkeit von bis zu 1900 MPa, einer Länge von bis zu 1000 Metern und einer Breite von bis zu 650 Millimetern kontinuierlich verarbeiten und beschichten.
hp: Das sind beeindruckende Dimensionen. Welche Schichtdicken und Eigenschaften erreichen Sie damit?
Dr. Behrens: Wir arbeiten ab 1 μm, also zwischen etwa 3 und 30 Mikrometern – für viele Vakuumprozesse sind das recht dicke Schichten. Die aufgedampfte Schicht kann je nach Anwendung rein aus Zink bestehen oder mit anderen Metallen wie Aluminium oder Magnesium ergänzt werden. Die Pilotanlage ist für ein- oder beidseitige Beschichtungen ausgelegt.
hp: Sie haben sich auf Zink konzentriert – ist die Technologie auch für andere Beschichtungsmaterialien interessant?
Herzog: Auf jeden Fall. Der Verdampfer in unserer Anlage ist im Grunde ein variabler „Dampfgarer“, der an verschiedene Metalle angepasst werden kann. Für hochschmelzende Materialien benötigen wir andere Verdampfungsquellen; dieses Wissen und diese Erfahrung bietet NEOVAC. Die Anlage ist modular aufgebaut – wir können sie je nach Partnerschaft und Kundenanforderungen produktspezifisch anpassen. Durch das installierte Sputter-/Kathodenzerstäubungsverfahren haben wir zudem die Möglichkeit, Schichteigenschaften gezielt zu optimieren.
hp: Warum sollte sich ein Stahlhersteller speziell für Ihre Technologie entscheiden?
Dr. Behrens: Wir bieten dem Markt eine Alternative zu einem ähnlichen, aber lizenzierten Verfahren. Unser Verfahren ermöglicht die Vakuumbeschichtung von ultrahochfesten Stählen mit Zink ohne Lizenzbindung.
hp: Wie sieht es energetisch aus – welche Vorteile bietet Ihr Verfahren?
Dr. Behrens: Wir sehen einen energetischen Vorteil unseres Verfahrens gegenüber bekannten Verfahren wie Feuerverzinken oder elektrolytischem Verzinken. Die Erzeugung von Vakuum und das Verdampfen von Material verbraucht laut unseren Analysen weniger Energie. Wir sprechen von Energieeinsparungen von bis zu 30 % im Vergleich zu herkömmlichen Verfahren, je nach Anwendung. Da die Anlage ohne Verbrennungsprozesse arbeitet und rein elektrisch betrieben wird, entsteht im Betrieb kein CO₂. Bei der Nutzung von Ökostrom ist der CO₂-Fußabdruck beispielsweise sehr gering. Im Vergleich müssen wir berücksichtigen, welche Systemgrenzen wir ziehen, aber grundsätzlich sind die Betriebskosten, insbesondere der Energieverbrauch, geringer.
hp: Sie suchen derzeit aktiv nach strategischen Partnern, um genau diese Möglichkeiten zu testen – was bieten Sie konkret an?
Ovelgönne: Wir bieten potenziellen Partnern die Möglichkeit, hier etwas zu unternehmen, wo sie normalerweise erst über Jahre hinweg eine eigene Laboranlage aufbauen müssten, bevor sie etwas testen können. Das ist hier nicht nötig – sie können uns ihr Mustermaterial zusenden und die gewünschten Beschichtungen definieren, die sie nach der Beschichtung durch uns für ihre weiteren Material- und Produkttests benötigen. Wir sind offen für Interessenten und heißen sie herzlich willkommen.
hp: Können interessierte Unternehmen die Anlage besichtigen?
Dr. Behrens: Selbstverständlich steht unsere Pilotanlage interessierten Unternehmen offen. Das NEOVAC-Technologiezentrum befindet sich in der Nähe von Frankfurt am Main und ist daher logistisch sehr gut erreichbar. Es ist uns wichtig, mit Interessenten in Kontakt zu kommen, die diese neue revolutionäre Technologie mit uns weiterentwickeln möchten.
hp: Wie fällt Ihr erstes Zwischenfazit nach drei Jahren intensiver Entwicklungsarbeit aus?
Ovelgönne: Wir haben bewiesen, dass die Technologie funktioniert; jetzt geht es um Skalierung und Marktdurchdringung. Für den Endmarkt brauchen wir einen Partner, der nun entsprechend seiner industriellen Herausforderungen den nächsten Schritt mit uns geht.
Dr. Behrens: Wir haben etwas geschaffen, das völlig neue Möglichkeiten bietet. Mit dieser Anlagentechnologie lassen sich Vorserien und Vorversuche durchführen – und das in einem Umfang, der insbesondere für hoch- und höchstfeste Stahlsorten von großem Interesse ist. Das ist unser Vorteil. Wir sind bereit für die nächste Entwicklungsstufe mit den richtigen Partnern und freuen uns auf alle, die gemeinsam mit uns die Zukunft der Stahlbeschichtung gestalten möchten.
Dr. Holger Behrens – Executive Vice President Flat Products, SMS group GmbH: Dr. Holger Behrens verantwortet als Executive Vice President der SMS group den Geschäftsbereich Flat Products. Seine Expertise umfasst Walzwerk- und Bandbehandlungstechnologien wie Warm- und Kaltwalzen, Glühen und Beschichten. Durch sein Studium an der Ruhr-Universität Bochum bringt Dr. Behrens eine technische Grundausbildung mit, die er über Jahre in der Industriepraxis bei der SMS group vertieft hat.
André Herzog – Chief Technology Officer (CTO) NEOVAC: André Herzog bringt als CTO von NEOVAC jahrzehntelange Expertise in der Vakuum- und Reinraumtechnik in die Partnerschaft mit der SMS group ein. Seine Karriere ist geprägt von der Entwicklung hochpräziser Beschichtungsverfahren und der praktischen Umsetzung komplexer Vakuumprozesse. Bei NEOVAC verantwortet Herzog die technologische Weiterentwicklung von PVD-Verfahren (Physical Vapor Deposition) und deren Anpassung an die spezifischen Anforderungen der Stahlbeschichtung.
Tim Ovelgönne – Chief Executive Officer (CEO) NEOVAC: Tim Ovelgönne verfügt über eine internationale Ausbildung am renommierten INSEAD und bringt durch seine Tätigkeit als Chief Expert M&A bei der SMS group zusätzlich strategische Kompetenz im Bereich Mergers & Acquisitions mit. Sein Engagement in verschiedenen Unternehmen wie der A-zero GmbH, der CATALYTIC Power Solutions GmbH und der NEOVAC GmbH unterstreicht seine Expertise in der Identifizierung und Entwicklung innovativer Technologieunternehmen.