gwf: Sind die Entwicklungen am Wasserstoffmarkt nicht so rasant, dass Ihre Modelle von der Realität eingeholt werden?
Prof. Ragwitz: Eigentlich nicht. Manches müssen wir natürlich wissen, beispielsweise welche Elektrolysekapazitäten heute wo in Europa installiert sind oder welche Wasserstoffbedarfe heute schon in der Industrie befriedigt werden. So können wir auf den richtigen Status Quo setzen. Aber die heutigen Kapazitäten sind sehr gering im Vergleich zu dem, was wir langfristig erwarten. Zudem sind unsere Modelle eher entlang der notwendigen methodischen Erfordernisse entwickelt. Es handelt sich um abstrakte Optimierungsmodelle, die mit verschiedenen Randbedingungen und Ausgangsdaten gefüttert werden und schließlich optimierte Infrastrukturen, zum Beispiel für Gas und Strom ergeben. Aber wenn jemand irgendwo eine Wasserstofftankstelle in Betrieb nimmt, bedeutet das nicht, dass wir die Modelle anpassen müssen.
gwf: Manche favorisieren die Idee einer „All Electric Society“. Ist das auch für Sie ein denkbarer Weg?
Prof. Ragwitz: Ich denke, die wissenschaftliche Diskussion ist inzwischen weiter. Als wir noch vor der Nationalen Wasserstoffstrategie standen, gab es diese polarisierten Lager: „all electric“ gegen „all molecules“. Zwischen diesen Extremen hat sich ein allgemein akzeptiertes Zielbild entwickelt: es gibt Prozesse, die elektrisch deutlich effizienter betrieben werden können als mit Molekülen, zum Beispiel der Individualverkehr und die Niedertemperaturwärme im Gebäudebereich. Diese werden „mainly“, aber nicht „all electric“ sein. Manche Stadtteile können auch wasserstoffbasiert geheizt werden, etwa weil ein Industrieunternehmen in der Nähe Wasserstoff benötigt und das lokale Verteilnetz deswegen effizient mit Wasserstoff betrieben werden kann. Oder denken Sie an einen denkmalgeschützten Altbau, der sich schwierig sanieren und mit Wärmepumpen betreiben lässt. Prozesse in der Grundstoffindustrie, Hochtemperaturwärme in der Industrie, der Schwerlastverkehr und Langstrecken Flug- und Schiffverkehr werden durch Wasserstoff und synthetische Brennstoffe dominiert sein. Zudem ist bei 10 bis 20 % des Endenergiebedarfs noch umstritten, welche Lösung am besten ist. Aber über den Großteil herrscht in der Wissenschaft Konsens.
gwf: Welchen Wert besitzt die Digitalisierung beim Thema Sektorenkopplung?
Prof. Ragwitz: Die Bedeutung der Digitalisierung für die Volkswirtschaft kann man gar nicht zu hoch einschätzen. Auch für den Energiesektor spielt die Digitalisierung eine zentrale Rolle. Gründe dafür sind die zunehmende Anzahl dezentraler und volatiler Erzeuger sowie die Notwendigkeit, diese Erzeuger mit einer flexiblen Nachfrage zu verknüpfen. Wir brauchen mehr digitale Strukturen, insofern ist Digitalisierung ein No-Regret moderner Energiesysteme. Wir werden beispielsweise optimierte Ladezyklen von E-Mobilität sehen, die Kundenansprüche und Komfortbedarfe einerseits, Optimierungsbedarfe und Flexibilitätsbedarfe des Gesamtsystems andererseits berücksichtigen – und dies wiederum unter Berücksichtigung lokaler Netzrestriktionen.
Es gibt drei Akteure, die in der Optimierung in Einklang zu bringen sind: den Konsumenten, der sein Auto rechtzeitig mit günstigem Strom laden will; das Gesamtsystem, das die günstigste Energieform bereitstellen soll, und die Netzinfrastruktur, die den Bottleneck dazwischen darstellt und dafür sorgt, dass alle Fahrzeuge zum günstigsten Zeitpunkt geladen werden. Um den Markt und das Netz gleichzeitig zu optimieren, brauchen wir digitalisierte Lösungen; Smart Grids, Smart Meter und smarte Bezahlungssysteme. Das betrifft die Wasserstoffinfrastruktur genauso: wir müssen die Einspeisung volatiler Erzeuger und im Gasnetz verfügbarer volatiler Wasserstoffquellen mit den Wasserstoffsenken in Echtzeit verbinden, um die Transport- und Speichernutzung zu optimieren.
gwf: Sie beraten unter anderem die Weltbank sowie politische Akteure auf nationaler und europäischer Ebene. Gibt es derzeit überall eine „Transformationsstimmung“, oder nehmen Sie unterschiedliche Strömungen wahr?
Prof. Ragwitz: Politik lebt vom Disput und von unterschiedlichen Perspektiven. Nichtsdestotrotz besteht über die grundsätzliche Richtung, vor allem in Europa, weitgehend Konsens: Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts. Heute geht es mehr um die Frage, wie dieses Zielbild am ökonomischsten in den gerade einmal 23 Jahren, die wir noch haben, erreicht werden kann. Wenn man die Investitionszyklen der verschiedenen Bereiche und die Langfristigkeit von Infrastrukturentscheidungen bedenkt, ist das die große Herausforderung. Ich erlebe Politik aber zum Glück als sehr erkenntnis- und evidenzbasiert. Wir sehen, dass wir sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene immer bessere wissenschaftliche Methoden und Beratungsprojekte haben, um faktenbasierte Politik zu unterstützen. Die Wasserstoff-Leitprojekte belegen das. Auf europäischer Ebene dürfen keine Richtlinien mehr vorgeschlagen werden, die nicht durch ein umfassendes Impact-Assessment begleitet werden, dass eine Modellierung des europäischen Energiesystems mit verschiedenen Szenarien enthält.
gwf: Inwiefern hat sich hier die politische Entscheidungsfindung weiterentwickelt?
Prof. Ragwitz: Früher hatten wir in Deutschland ein Leitszenario, welches zur Entscheidungsunterstützung der Politik zur Verfügung stand. Das war ein normatives Zielbild aus der Wissenschaft, welches als Planungsgrundlage der Politik dienen sollte. Von da sind wir in eine Welt gekommen, in der die Wissenschaft der Politik Alternativen anbietet. Die Leitstudie, die das Leitszenario errechnet hat, wurde abgelöst durch Langfristszenarien, die mehrere Szenarien ausrechnen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass unterschiedliche Restriktionen, etwa für den Netzausbau, oder andere technologische Präferenzen, z. B. zur Onshore- versus Offshore-Windenergie, hinterlegt sind. Ebenso werden unterschiedliche Kundenpräferenzen wie synthetische Brennstoffe im Verkehr versus Elektromobilität abgebildet. Diese Szenarien zeigen auch den Preis für die unterschiedlichen Kundenpräferenzen und auch nichtökonomische Hemmnisse, beispielsweise im Netzausbau. Die Politik soll aus diesem Portfolio von Szenarioanalysen ein Gefühl dafür bekommen, welche Preis- und Kostenunterschiede mit dem jeweiligen Szenario für die Volkswirtschaft und den Energiemarkt verbunden wären. Daraus lassen sich dann evidenzbasierte Präferenzen für die Entscheidungsträger ableiten. Dieser Modus der Politikberatung erlaubt es, in Policy-Bündeln zu denken und durch geeignete Policy-Bündel die gewünschte „Zielwelt“ zu erreichen. Das ermöglicht eine sehr diskursgetragene Art der Entscheidungsfindung.
gwf: Gut, die Politik hatte womöglich noch nie so gute Grundlagen für prognosebasierte Entscheidungen. Aber wird nicht doch mancherorts auf die Bremse getreten, statt beim Wasserstoffhochlauf richtig Gas zu geben?
Prof. Ragwitz: „Auf die Bremse treten“ ist vielleicht das falsche Bild. Ich glaube, man kann verschiedene Grade von „Gas geben“ unterscheiden. Einerseits brauchen wir dort, wo der richtige Weg eindeutig ist, eine starke Beschleunigung. Das gilt zum Beispiel für den Ausbau erneuerbarer Energien. Die Ausbauraten müssen sich in etwa vervierfachen. Auch für die Netzinfrastrukturen benötigen wir sehr schnell Systementwicklungspläne. Wir müssen die Strategieentwicklung und die Planungsprozesse beschleunigen, weil Infrastrukturen der wesentliche Bottleneck der Energiewende sind. Das war bei den Stromnetzen schon so und wird bei den Wasserstoffnetzen genauso sein. Wir müssen zudem die Regulierung beim Ausbau der Wasserstoff- und Stromnetze grundlegend überarbeiten. Es steht ein Paradigmenwechsel an, in dem wir uns erlauben müssen, temporär in Überkapazitäten reinzulaufen. Deswegen ist es schon richtig, wenn man beim Ausbau der Netze ruhig mal etwas zu schnell oder mit etwas zu großen Kapazitäten vorgeht. Dennoch ist es wichtig, dass wir uns die Zeit für die Analyse nehmen, um das geeignete Zielbild aus Strom, Wasserstoffinfrastrukturen und anderen synthetischen Brennstoffen genau zu betrachten und überlegen, wo wir große Kapazitäten brauchen.
gwf: Wie stellen Sie sich die Entwicklung eines Wasserstoffnetzes im Detail vor?
Prof. Ragwitz: Wir sehen zum Beispiel, dass Elektrolyse eher erzeugungsbasiert, also im Norden benötigt wird, und dass wir für große Transportbedarfe Wasserstoffnetze brauchen. Eine robuste Handlungsempfehlung ist daher, redundante Erdgastransporttrassen zeitnah auf Wasserstofftransport umzurüsten und an einigen Stellen neue Wasserstoffinfrastrukturen aufzubauen. Es ist sehr wichtig, dass wir bei den IPCEI-Vorhaben sehr schnell vorankommen, sodass wir dort schonmal erste Pflöcke einschlagen und erste Investitionsentscheidungen zu Infrastrukturen treffen. Nehmen wir die Ziele von REPowerEU: 10 Mio. t Wasserstoff sollen in Europa hergestellt werden, weitere 10 Mio. t will man importieren. In Summe geht es also jährlich um 20 Mio. t ab 2030, oder grob 660 TWh. Das ist sehr ambitioniert und wird nur zu erreichen sein, wenn wir für die wesentlichen Lastzentren heute schon die Bedingungen schaffen, dass man dort Wasserstoffnachfragen bedienen kann, am Anfang vor allem in der Stahl- und Chemieindustrie. Dort müssen die ersten Infrastrukturen entstehen. In Deutschland denke ich da z. B. an Duisburg, Eisenhüttenstadt, Ludwigshafen, das Mitteldeutsche Chemiedreieck oder Salzgitter.
gwf: Warum glauben Sie, dass wir die Transformation rechtzeitig bewerkstelligen?
Prof. Ragwitz: Weil die Kreativität von Ingenieuren und gut ausgestalteten Märkten sehr groß sein kann. Und weil ich glaube, dass wir vernunftbegabt sind und die Gesellschaft als Ganzes die Gefahren eines unbegrenzten Klimawandels versteht. Ich sehe natürlich gleichzeitig, dass die Herausforderungen riesig sind und wir uns in einem internaionalen Kontext bewegen, wo auf einer globalen Ebene Klimaneutralität noch nicht an allen Stellen als unumgänglich gilt. Aber ich sehe auch, dass wir in bestimmten Bereichen deutlich schneller vorangekommen sind, als wir dachten. Und wir beobachten, dass die Entwicklung neuer Technologien und Anwendungen auf dem Markt zu deutlichen Kostensenkungen bei der Erzeugung erneuerbarer Energien führt, sodass wir die Transformation auch zu volkswirtschaftlich handhabbaren Kosten bewerkstelligen können. Letztlich ist die Transformation hin zur Klimaneutralität viel günstiger als die Schadenskosten, die entstehen, wenn wir die Transformation nicht hinbekommen. Ich glaube, dass wir in vernunftbasierten Policy-Arenen agieren und merken werden, dass es sich lohnt, diese Anstrengungen zu ergreifen.
gwf: Herr Prof. Ragwitz vielen Dank für das Gespräch.