Die Digitalisierung begleitet die Industrie intensiv. Doch wo steht die Stahlbranche? Im Interview mit stahl. unterstreicht Volker Lang, Head of Digital Solutions bei thyssenkrupp Steel, wie die Digitalisierung abteilungsübergreifend Teams und interne Prozesse stärkt. Er betont dabei die Bedeutung von Algorithmen zur Unterstützung des Menschen, die Transparenz des CO2-Fußabdrucks und den Ausbau zum digital twin. Wichtig: Bei der Digitalisierung gilt es am Ball zu bleiben.
stahl.: Wie treibt thyssenkrupp Steel die digitale Transformation?
Volker Lang: In einem Stahlunternehmen wie thyssenkrupp Steel ist Digitalisierung kein Selbstzweck. Unser Fokus liegt eindeutig darauf, durch Digitalisierung das Geschäft voranzubringen. Um unser Unternehmen auch in Zukunft erfolgreich zu machen, benötigen wir Businessstrategien, die in einer zunehmend digitalen Welt funktionieren. Aus diesem Grund ist auch die Digitale Transformation unseres Unternehmens fest in unsere Strategie 20-30 integriert. Für uns als Digitaleinheit bedeutet das, dass wir nah an unseren Fachbereichen sind und so mitbekommen, was unsere Kolleginnen und Kollegen bewegt und an welchen Herausforderungen gerade gearbeitet wird. So bekommen wir ein Gefühl dafür, was wir beitragen können. Digitalisierung ist eben ein Mannschaftssport. Nur gemeinsam können wir erfolgreich sein.
Welchen Stellenwert hat die Digitalisierung für thyssenkrupp Steel?
Die Digitalisierung treibt die Vernetzung von Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette weiter voran. Wer diese Entwicklung mitgestalten will, braucht im Inneren effiziente und digitale end-to-end Prozesse, abgebildet auf modernen IT-Plattformen und nach außen flexible digitale Schnittstellen, um die Anschlussfähigkeit an Kunden und Partner zu gewährleisten. Diese Erkenntnisse sind nicht ganz neu. Wir haben den Trend früh erkannt und investieren seit mehr als 10 Jahren sehr konsequent in die Harmonisierung von Daten und Prozessen in allen Teilen unseres Unternehmens. Wir haben leistungsfähige und sichere IT Infrastruktur und Plattformen eingeführt und auch Zukunftstechnologien wie Big Data, IoT und KI sind längst kein Neuland mehr.
Bei der Automatisierung haben Sie Ihre Hausaufgaben schon gemacht. Was passiert in Sachen digitaler Transformation in der Wertschöpfungskette?
Es geht jetzt darum, den Schritt hin zur Industrie 4.0 zu machen. Im Fokus steht dabei die intelligente Nutzung der vorhandenen Daten durch deren Vernetzung – im Unternehmen aber gerade auch unternehmensübergreifend entlang der Wertschöpfungskette. In vielen Branchen gerade im B2C-Bereich hat dies zu disruptiven Veränderungen der Geschäftsmodelle geführt. Aber auch wir spüren den Transformationsdruck des Marktes. Am Beispiel Grüner Stahl kommt er sogar vom Endverbraucher. Die Information, die der Kunde braucht, um sich im Sinne der Nachhaltigkeit zu entscheiden, kann er am Ende nur von uns erhalten. Hier passen dann digitale und grüne Transformation zusammen. Bei der Dekarbonisierung geht es natürlich in erster Linie darum, CO2 bei der Stahlerzeugung erst gar nicht entstehen zu lassen. Das erfordert in den kommenden Jahren massive Investitionen in den Anlagenpark. Ein nachhaltiges Geschäftsmodell entsteht aber nur dann, wenn Sie dem Kunden die relevanten Informationen zum CO2-Footprint dann auch bereitstellen können. Das erfordert eine Vernetzung vom Lieferanten bis zum Endverbraucher.
Wie schätzen Sie einen automatisierten Nachweis des CO2-Fußabdrucks, bezogen auf die Wertschöpfung, ein?
IT-technisch ist das alles lösbar. Wie aufwändig ein solch automatisierter Nachweis wird, hängt davon ab, welche Aspekte in so einem CO2-Fußabdruck berücksichtigt sein sollen und mit welcher Genauigkeit. Reichen Durchschnittswerte für die einzelnen Fertigungs- und Transportschritte, oder wollen wir genauer werden? Wichtig ist, dass die Lösungen einfach bleiben. Denn der CO2-Fußabdruck wird als Produkteigenschaft zwar wichtiger, ist aber natürlich als Endprodukt durch den Verbraucher nicht mehr wahrnehmbar. Der Kunde muss dem vertrauen, was auf dem Produkt ausgewiesen ist. Um dieses Vertrauen erst einmal herzustellen, brauchen Sie eben einfache, transparente und vor allem auditierbare Prozesse. Würde man das Problem zum Beispiel auf der IoT-Ebene lösen wollen, so wäre das durch Echtzeit-Kommunikation und smarte Sensoren sicher technisch machbar, aber eben auch hochkomplex, im Ergebnis schwankend und damit insgesamt schwierig nachvollziehbar. Ich glaube also, dass wir einen Weg finden müssen, der in der Mitte liegt: Transparenz über Energie- und Materialflüsse in Echtzeit zu haben ist gut, aber für den Nachweis brauchen wir eine Entkopplungsebene, um den Prozess einfach zu halten.
Wie wird bei Precision Steel die digitale Transformation vorangetrieben?
thyssenkrupp Precision Steel ist unsere Tochtergesellschaft in Hohenlimburg und ein schönes Beispiel dafür, was es bedeutet, Wertschöpfungsketten unternehmensübergreifend zu denken. Unternehmen haben die letzten zwanzig Jahre damit verbracht, innerhalb ihrer Grenzen durch Automatisierung und Digitalisierung zu optimieren. Der nächste Schritt liegt jetzt darin, das Potenzial zu heben, das in der wertschöpfungskettenübergreifenden Optimierung liegt. Hier hat thyssenkrupp Precision Steel beste Voraussetzungen: Die Kollegen sind sehr nah an ihren Kunden und Märkten und haben so ein sehr gutes Verständnis dafür, was ihr spezifisches Geschäftsmodell erfordert, um am Markt erfolgreich zu sein. Konkret sind bei Precision Steel eine hohe Flexibilität und Kundennähe besonders relevant. Die geringere Größe und Komplexität unserer Tochterunternehmen, im Vergleich zum Standort in Duisburg, erlaubt dann eine schnelle und agile Umsetzung. Die technischen Voraussetzungen, wie zum Beispiel die Integration von MES-, ERP- und IoT-Daten, wurden in den letzten Jahren ebenfalls geschaffen. Auf dieser guten Basis lassen sich dann durch digital unterstütze Geschäftsmodelle auch schnelle und sichtbare Markterfolge erzielen.
Was ist im Moment das spannendste Digitalisierungsfeld für Sie?
Ganz allgemein gesprochen geht es uns darum, noch mehr digitale Technologie auch wirklich gewinnbringend in die breite Anwendung zu bringen. Durch den noch flächendeckenderen Einsatz von KI könnten wir zum Beispiel schnellere und bessere Entscheidungen treffen. Heute wollen wir Daten nicht mehr nur nutzen, um Abweichungen zu erklären. Vielmehr streben wir an, Daten in Echtzeit zu verstehen, Muster zu
erkennen und so unsere Prozesse vorausschauend zu steuern. Dazu müssen wir riesige Datenmengen bewegen und nahezu in Echtzeit analysieren. Dies ist auch eine technische Herausforderung. Aufgrund höchster Verfügbarkeitsanforderungen in der Produktion können wir die Daten nicht einfach in die Cloud ‚pumpen‘. Die Verarbeitung der Daten erfolgt überwiegend direkt vor Ort an den Anlagen. Gleichzeitig müssen wir den Zielkonflikt zwischen immer mehr Offenheit vernetzter Digitalisierung und den gleichzeitig stetig wachsenden Ansprüchen an die IT-Security auflösen. Um beiden Herausforderungen zu begegnen, setzen wir in unseren Werken auf moderne, leistungsfähige und sichere Edge-Datacenter.
Lässt sich durch die Transformation bereits ein positiver wirtschaftlicher Effekt erkennen?
Wenn wir immer sagen, dass Digitalisierung kein Selbstzweck sein soll, müssen wir natürlich auch wirtschaftliche Effekte erzielen. Diese dann nach Abschluss eines Projektes differenziert der Digitalisierung zuzuordnen, fällt manchmal gar nicht so leicht. Denn Digitalisierung ist meist keine simple Ersatzinvestition. Oft ändern wir gleichzeitig auch unsere Prozesse und die Art und Weise, in der wir zusammenarbeiten – es geht eben um weit mehr als nur um Technik. Ein Beispiel: Wir transformieren gerade unseren gesamten HR-Bereich. Gleichzeitig führen wir eine neue Cloudlösung ein, auf der wir dann alle neu designten Personalprozesse abbilden. Sämtliche heute vorhanden Schnittstellen fallen weg, alle Kollegen aus allen Bereichen arbeiten dann gemeinsam auf einer Plattform. Alles in allem ist dies für uns ein riesen Schritt nach vorne, auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Als Gesamtvorhaben ist dies dann eben auch viel mehr als nur Digitalisierung.
Wie weit sind Sie von einem kompletten digital twin entfernt?
Da gibt es verschiedene Reifegrade, je nachdem, ob wir jetzt über einen digital twin von unseren Anlagen, unseren Produkten oder einem Prozessabbild sprechen. In unserem Verständnis muss das perspektivisch alles zusammenkommen. Unsere Unternehmensleitprozesse sind bereits seit langem digitalisiert, wir haben moderne Fertigungsleitsysteme in unseren Werken im Einsatz und hunderttausende von Sensoren in den Anlagen verbaut. Die waren dort schon, bevor das Wort Industrie 4.0 überhaupt aufkam, aus der Automatisierung heraus. Wenn Sie also die Frage nach einem digitalen Zwilling der Anlage oder einem digitalen Zwilling des Materials stellen, dann würde ersterer ja entstehen, wenn wir all diese Daten aus der Produktion heraus transportieren und zum Beispiel in einen zentralen Data Lake ablegen. Genau das machen wir. So schaffen wir die Möglichkeit, die Daten zu analysieren, KI-Modelle zu entwickeln und damit bestimmte Entwicklungen vorherzusehen. Wichtig ist auch hier die Frage nach konkreten Anwendungsfällen: Bei thyssenkrupp nutzen wir diese Daten zum Beispiel heute schon für die Entwicklung von condition-monitoring-Lösungen und zur kontinuierlichen Qualitätsoptimierung. Es gibt sicher noch großes Potential für weitere Anwendungsfälle. Die bisherigen Erfolge geben uns die Zuversicht, dass wir da gut unterwegs sind.
Welche weiteren Schritte planen Sie in Richtung Digitalisierung?
Wie bereits erwähnt, ist Digitalisierung in einem Produktionsunternehmen kein Selbstzweck, sondern folgt der Businessstrategie. Unser strategischer Fokus ist klar in unserer Strategie 20-30 beschrieben. Es geht vor allem darum, unsere Performance dauerhaft zu steigern und unser Produktportfolio weiterzuentwickeln. Die dafür notwendigen Schritte begleiten wir aktuell IT-seitig. Wenn wir beispielsweise in unsere Produktionsanlagen investieren oder neue Anlagen bauen, müssen diese in die komplette IT- und Prozesslandschaft integriert und an MES-Systeme sowie an die IoT-Datenautobahn angeschlossen werden. Über die grüne Transformation haben wir bereits gesprochen: Neben der Umsetzung der notwendigen Anpassungen unserer Unternehmensprozesse, wird hier unser Beitrag als IT auch darin liegen, noch größere Transparenz über alle Stoff- und Mengenflüsse zu erreichen. Dies ist sozusagen die Geburt eines neuen digital twins. Aus technologischer Sicht haben Themen rund um „Künstliche Intelligenz“ auch noch ein riesiges Potential. Wir planen, diese noch viel stärker in unsere Datenströme zu integrieren und flächendeckender in Entscheidungsprozessen zu nutzen, um unseren Kollegen eine Hilfestellung zu geben. Am Beispiel eines Leitstands kann Digitalisierung nicht bedeuten, aus 20 Monitoren 22 zu machen. Es muss viel mehr darum gehen, die Aufmerksamkeit der Menschen vor Ort intelligent zu steuern: Die KI stellt Abweichungen fest, weist die Nutzer auf bestimmte Situationen hin und macht bestenfalls noch Entscheidungsvorschläge.
Wird die Digitalisierungsrallye weiter linear
verlaufen oder beschleunigen?
Die ist jetzt schon nicht linear, zumindest die Entwicklung der Technologie verläuft eher exponentiell. Wir müssen am Ball bleiben, den Speed aufnehmen und kontinuierlich bewerten, welches Potential neue Technologien für uns haben. Hierfür müssen wir schneller und mutiger werden. Das heißt auch loszulassen von dem Versuch, alles vorherzusehen und vorauszuplanen. Bei der Digitalisierung schlägt Agilität die Stabilität. Bei dieser Art von Veränderung müssen wir bereit sein auch mal Fehler zu machen, und wir brauchen eine gesunde Fehlerkultur, um zu lernen. Viele dieser Veränderungen sind anders als das, was Unternehmen in der Vergangenheit erfolgreich gemacht hat. Erfahrung ist wichtig, aber auch in einem großen, etablierten Unternehmen müssen die Menschen lernen, ein kleines bisschen Start-Up zuzulassen.
Herr Lang, vielen Dank für das Gespräch.