Wasserstoff wird hauptsächlich über die Verteilnetze zu den Endverbrauchern gelangen. Doch sind die Verteilnetzbetreiber auf den Wasserstoffhochlauf vorbereitet? Im Interview erklären Florian Feller, Vorsitzender der Dekarbonisierungsinitiative H2vorOrt und Gert Müller-Syring, Geschäftsführer des DBI, wie sie die deutschen Verteilnetze H2-ready machen und so langfristig Versorgungssicherheit und Klimaneutralität gewährleisten wollen.
gwf: Herr Feller, wie kamen Sie darauf, H2vorOrt ins Leben zu rufen?
Feller: Die Gründungsidee kam mir während der Stakeholder-Konferenz zur nationalen Wasserstoffstrategie Ende 2019. Neben mir als Repräsentanten der energie schwaben gmbh waren dort kaum Verteilnetzbetreiber anwesend. Das empfand ich als Manko, denn gerade für die Verteilnetze war eine Positionierung zu diesem Thema extrem wichtig. Nach etwas Koordinierung und Abstimmung haben wir dann im Mai 2020 zusammen mit dem DVGW als technischem Partner H2vorOrt mit damals 33 Partnerunternehmen ins Leben gerufen. Innerhalb eines halben Jahres haben wir ein erstes Strategiepapier veröffentlicht. Inzwischen sind wir auf knapp 50 Partnerunternehmen angewachsen und konnten 2021 auch den VKU als weiteren Verbändepartner gewinnen.
Herr Müller-Syring, welche Aufgaben übernimmt das DBI bei H2vorOrt?
Müller-Syring: Innerhalb von H2vorOrt sind wir ein Wissenschaftspartner in technischen Fragen. 2002 habe ich für den DVGW an einer der ersten Studie im neuen Jahrtausend zum Thema Wasserstoff und Transformation des Gasnetzes für höhere Wasserstoffanteile mitgearbeitet. Später war das DBI an einem europäischen Projekt beteiligt, das die technische Transformation zur H2-readiness zum Inhalt hatte. Seit 2012 unterstützen wir die Gaswirtschaft basierend auf diesen Erkenntnissen im Bereich Wasserstoff und Wasserstofftoleranz.
Herr Feller, H2vorOrt hat jüngst den Ergebnisbericht zum Gasnetzgebietstransformationsplan veröffentlicht. Worum handelt es sich beim GTP genau?
Feller: Der GTP ist ein koordiniertes Planungsinstrument für die Transformation der Gasverteilnetze hin zur Klimaneutralität. Der GTP war bereits Teil der 2020 in unserem ersten Strategiepapier vorgestellten Maßnahmen. 2021 haben wir dann mit der Konzeptionierung des Prozesses begonnen und im März 2022 den Planungsleitfaden über DVGW-Rundschreiben und VKU-Geschäftsführerbrief an alle Verteilnetzbetreiber versendet. Von den rund 700 Verteilnetzbetreibern haben 180 den GTP-Prozess gestartet und Planungen abgegeben. Erfreulicherweise sind wir in nahezu allen Landkreisen der Bundesrepublik vertreten, die teilnehmenden Unternehmen betreiben gemeinschaftlich mehr als die Hälfte der deutschen Gasnetzkilometer und Netzanschlüsse. Zehn weitere Unternehmen haben gemeldet, den Prozess ebenfalls gestartet zu haben. Wir gehen davon aus, dass viele weitere, oft kleinere VNBs, die dieses Jahr nicht die Kapazitäten hatten teilzunehmen, den GTP-Prozess zeitnah beginnen. Ziel ist es, dass die GTP-Planungen bis spätestens 2025 Investitionsreife erlangen. Viele Verteilnetzbetreiber sehen einen ersten Wasserstoffeinsatz schon in den nächsten acht Jahren. Die großflächige Umstellung auf reinen Wasserstoff wird in Deutschland in den 2030er-Jahren geschehen, bei derartigen Infrastrukturmaßnahmen wollen die Umstellprozesse ja über die gesamte Kette gut koordiniert sein. Deshalb ist es auch so wichtig, jetzt zu beginnen. Sie sehen: Das Ambitionsniveau der Verteilnetzbetreiber in Deutschland ist sehr hoch. Wir gewährleisten die Versorgungssicherheit und versuchen gleichzeitig, Klimaneutralität herzustellen. In den letzten Jahren ist ein regelrechter Ruck durch die Verteilnetzbrache gegangen. Wir Verteilnetzbetreiber, oder zumindest jene, die sich am GTP beteiligen, wollen nicht warten, bis auf Bundesebene eine strategische Richtung vorgegeben wird. Wir fangen jetzt an und tun unseren Teil. Selbstverständlich gibt es Themen, die rechtlich noch nicht geregelt sind – hier braucht es politische Entscheidungen.
Wieso setzen Verteilnetzbetreiber mittel- bis langfristig auf Wasserstoff?
Feller: Die wichtigsten Gründe sind Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit. Beides wird heute aus der Gasperspektive infrage gestellt. Im deutschen Primärenergieverbrauch finden sich rund 35 % Erdöl, 25 % Erdgas, 20 % Kohle und 5 %Nuklearenergie. Diese Energieträger fallen weg, wenn Deutschland klimaneutral und nuklearfrei werden soll. Und gleichzeitig handelt es sich dabei, bis auf die Braunkohle, um Energieimporte. Wir könnennicht über 80 % unserer Primärenergie plötzlich heimisch erzeugen oder einsparen. Wir müssen große Teile davon also weiterhin aus anderen Ländern beziehen und das geht in meinen Augen nur über den Import von klimaneutralem Wasserstoff oder seinen Folgeprodukten. Und diese Energie muss dann ja auch zu den Kunden kommen. Versorgungssicherheit gewährleisten wir langfristig nur, indem wir unsere Gasnetze ertüchtigen, um den importierten Wasserstoff der Zukunft zu verteilen. Wir haben eine gute Gasinfrastruktur, in die investiert werden kann. Der DVGW hat dazu eine Studiegemacht: man bräuchte insgesamt weniger als 20 Mrd. € für die Ertüchtigung der Gasverteilnetze für die Verteilung von reinem Wasserstoff. Gleichzeitig zahlen wir jährlich eine EEG-Einspeisevergütung von 10-15 Mrd. €. Daran sieht man, dass der Investitionsbedarf eigentlich nicht besonders hoch ist.
Warum beteiligen sich nicht alle Verteilnetzbetreiber an Ihrem Plan?
Feller: Ein Grund war sicherlich die relativ kurze Bearbeitungszeit, was eine Vielzahl von Bitten um Fristverlängerung bestätigt. Im März haben wir den GTP-Leitfaden verschickt, Abgabefrist war Ende Juni – und das in einem für Gasversorger ohnehin schwierigen Jahr. Zudem handelt es sich bei vielen Verteilnetzbetreibern um verhältnismäßig kleine Stadtwerke, die oft nicht über die personellen Ressourcen für die Beschäftigung mit dem Thema verfügen. 180 Teilnehmer ist deshalb für den Start schon richtig gut, immerhin war es das erste Jahr. Ich glaube, dass viele 2023, wenn das Ganze mehr Publizität erreicht hat, dabei sein wollen. Aber schon jetzt ist mehr als die Hälfte des deutschen Gasverteilnetzes im GTP repräsentiert.
Worauf lag in diesem ersten Jahr der technische Schwerpunkt der Befragung zum GTP?
Feller: Wir haben dieses Jahr mit dem Rohrleitungsmaterial begonnen, denn das ist erstmal das Wichtigste. Die technische Analyse wird in den Folgejahren zunehmend ambitionierter im Hinblick darauf, welche Elemente des Gasnetzes betrachtet werden. Sie wird progressiv gesteigert, bis der Plan spätestens 2025 alle Netzkomponenten umfasst. So kann für jedes Netz konkret gesagt werden, was noch zu tun ist. Der diesjährige GTP war sicherlich am einfachsten zu erstellen, sozusagen als Einstieg. Wir erhärten die Planung nun allerdings progressiv, während immer mehr Verteilnetzbetreiber teilnehmen. Hierbei kommt uns die Asset- Datenbank, die gegenwärtig vom DVGW entwickelt wird, entgegen – sie wird ein zentraler Schlüssel für die Beurteilung der H2-Readiness der Gasnetze werden.
Wie war das Ergebnis Ihrer ersten Datenerhebung?
Feller: Es kam heraus, dass in Deutschland 95,9 % der Verteilnetzrohe aus Materialien bestehen, die grundsätzlich wasserstofffähig sind – entweder Kunststoff oder Stahl. Bei Stahl gibt es im Bereich der Verteilnetze keine Probleme mit Wasserstoff. Dann bestehen ca. 1,5 % der Rohre aus Duktilguss, bei denen noch geprüft wird, ob sie mit Wasserstoff einsetzbar sind, die bisherigen Ergebnisse legen das allerdings nahe. Nur 0,2 % müssten gesichert getauscht werden. Die restlichen 2,4 % entfallen auf die Option „unbekannt“, wobei hier nicht davon auszugehen ist, dass diese Informationen in den Firmen in allen Fällen nicht vorliegen. Diese technische Analyse wurde nicht nur über die Teilnehmenden gemacht, sondern über alle, die in der Gas-Wasser-Statistik des DVGW erfasst sind – über 90 % der deutschen Leitungskilometer. Damit ist sie sehr repräsentativ.
Diese Rohre sind also 100 % wasserstofftauglich?
Feller: Ja. Diese 95,9 % sind aus einem Material, das für 100 % Wasserstoff geeignet ist.
Müller-Syring: Man muss allerdings zwischen Fern- und Verteilnetzen unterscheiden. Im Verteilnetzbereich gibt es keine Druckwechsel und überwiegend niedrige Drücke. Zudem sind die Netze nicht hoch ausgelastet. Das ist bei Fernoder Transportnetzen oft anders. Grundsätzlich sehen wir aus den aktuellen Untersuchungen, dass auch Rohre in Transportrohrleitungen eine gute H₂-Tauglichkeit aufweisen. Dies ist durch die eingesetzten Materialien und auch die vorwiegend ruhende Beanspruchung begründet. Dadurch können etwaige Risse nicht wachsen, was verhindert, dass Wasserstoff ins Material eindringt. Nichtsdestotrotz gibt es im Transportnetz Assets (z. B. Verdichter, Untergrundspeicher) die sensibel auf Wasserstoff reagieren und daher mehr Anpassungsbedarf haben als im Gasverteilnetz absehbar ist. Deswegen sind Verteilnetze gewissermaßen noch gutmütiger bei der Wasserstoffumstellung.
Im Verteilnetzbereich arbeitet man überwiegend mit Kunststoffleitungen. Macht es einen Unterschied, ob P 80, P100, oder PVC-Leitungen im Einsatz sind?
Müller-Syring: Nein, nur marginal. Bei Kunststoff spielen nur Dichtheit und Permeation eine Reihe. In Punkto Dichtheit ist alles in Ordnung, egal, welche Verbindungstechnologie vorliegt. Die Permeation ist bei alten Rohrleitungen einen Hauch höher als bei jüngeren Generationen, aber sie ist trotzdem hinsichtlich der Umweltauswirkungen und der Sicherheit nicht relevant. Daher gilt: Im Gasverteilnetz haben wir überwiegend eine dem Wasserstoff sehr gewogene Situation.
Wo sehen Sie hinsichtlich des Materials die größten Hürden bei der Umstellung?
Feller: In oberirdischen Anlagen muss beispielsweise etwas getan werden. Aber um ehrlich zu sein, konnten weder wir noch der DVGW bislang einen ‚Show-Stopper‘ identifizieren.
Sie sprechen in Ihrem Bericht von vier Untersuchungsschwerpunkten des GTP. Welche sind das?
Feller: Der erste ist die bereits angesprochene Technik, der zweite die Kundenanalyse. Hier geht es zum Beispiel darum, wie die Bedarfe und Investitionszyklen unserer Industriekunden aussehen. Wann brauchen sie Wasserstoff und welche Vorlaufzeiten benötigen sie? Ebenso gilt es, sich mit den Kommunen abzustimmen und die Erkenntnisse des GTP in die kommunale Wärmeplanung einfließen zu lassen. Netzbetreiber und Verbraucher sollten optimal aufeinander abgestimmt sein. Nur so können wir die Energiewende vor Ort zum Erfolg führen. Der dritte Punkt ist die Einspeiseanalyse. In vielen Netzen gibt es heute eine Einspeisung von Biomethan. Wie geht man damit um, wenn die Versorgung von Erdgas auf Wasserstoff umgestellt wird? Wenn man vor Ort Kunden hat, die stofflich auf Methan angewiesen sind, kann es Sinn machen, den klimaneutralen CO2-Output der Biomethanaufbereitungsanlage für die zusätzliche Methanisierung von Wasserstoff zu verwenden und lokal ein Methannetz beizubehalten. Alternativ ist die Pyrolyse von Biomethan, da sie Negativemissionen erzeugt, eine sehr spannende Technologie, da wir so nur schwer vermeidbare CO2-Emissionen ausgleichen können, was uns hilft, die letzten Meter zur Klimaneutralität in Deutschland zu gehen. Der vierte Punkt ist die Kapazitätsanalyse, also die Gebiets- und Mengenplanung – im Grunde die Basis für alle weiteren Planungen. Das ist ein wichtiger, aber auch schwieriger Punkt, weil der Netzbetreiber eine Einschätzung der Zukunft abgeben muss. Dazu unterteilt er sein Netzgebiet in Umstellzonen. Diese kann er frei bestimmen – im Normalfall sind es netztopologisch eigenständige Zonen oder solche, die leicht eigenständig gemacht werden können. Der VNB weist diesen dann Zeitreihen zu, die prognostizieren, wann wie viel Methan oder Wasserstoff bezogen wird. Hier kann auch der Übergang von einer Gas- zu einer Fernwärmeversorgung oder sonstigen Alternativversorgung abgebildet werden.
Wie aufwändig ist das Beantworten der Fragen für die Teilnehmer?
Feller: Das ist hochgradig unterschiedlich und hängt von der Größe der Gesellschaft ab. Netzbetreiber können nicht komplett selbständig entscheiden, wann sie auf Wasserstoff umstellen werden – das geht nur im Dialog mit den vorgelagerten Netzbetreibern – seien es nun Fernleitungsnetzbetreiber oder ein größerer regionaler Verteilnetzbetreiber. Oft hängen gerade kleinere Verteilnetzbetreiber an vorgelagerten Verteilnetzbetreibern, die viel von der Planung übernehmen. Wenn Sie ein nachgelagerter Netzbetreiber sind, und Ihr vorgelagerter Verteilnetzbetreiber die Befragung schon durchgeführt hat, ist der Aufwand vermutlich etwas geringer. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig, die Bedarfe der eigenen Kunden zu erfassen und diese in den Dialog mit dem vorgelagerten Netzbetreiber einzubringen. Auch die technische Analyse muss jeder Netzbetreiber selbst machen. Ich würde daher jedem empfehlen, sich zu beteiligen. Verteilnetzbetreiber müssen sich überlegen, wie sie in Zukunft mit ihren Assets umgehen. Die Klimaneutralität kommt und eine Erdgasversorgung wird es dann nicht mehr geben.
Welche Rolle spielen die Fernleitungsnetzbetreiber?
Feller: Im GTP ist festgelegt, dass jeder Verteilnetzbetreiber mit seinem vorgelagerten Netzbetreiber sprechen muss. In vielen Fällen sind das Fernleitungsnetzbetreiber. Die werden jetzt gefragt: „Wann sehen wir Wasserstoff konkret bei uns?“ und werden zudem über die Bedarfe aus den Verteilnetzen informiert. Die Fernnetzbetreiber müssen diese Forderungen koordinieren und ihren Backbone-Plan dahingehend optimieren. Dieser Plan fließt dann wieder in die nächste GTP-Planung der VNBs ein – also ein iterativerProzess, der zu einem gemeinschaftlichen und netzebenenübergreifenden Zielbild konvergiert. Dieses kohärente Zielbild, das wir schaffen, indem wir die Kundenbedarf mit dem Angebot des Wasserstoff-Backbones koordinieren, ist eine der wichtigsten Leistungen des GTP. Die Hälfte aller deutschen Haushalte hängt an den Verteilnetzen, ganz zu schweigen von ca. 1,8 Mio. Industrie- und Gewerbekunden. Der deutsche Mittelstand hängt am Verteilnetz – umso wichtiger, dass wir frühzeitig die Grundlagen für eine künftige Wasserstoffversorgung legen.
Welche Rolle spielt die Bundesnetzagentur bei der Umsetzung?
Feller: Nach §28 Abs. q des EnWG wurde kurz vor der Veröffentlichung des GTP der Wasserstoffbericht erstellt, der Bericht der Fernnetzbetreiber zum Ausbau des Wasserstoffnetzes. Im Kapitel „Verteilnetze“ findet sich als erstes der GTP als Wasserstoffnetzplanung auf Verteilnetzebene wieder. Insofern ist er ein mit den FNBs abgestimmtes, verbändeübergreifendes Konzept. Anschließend ist er als Planungsvorschlag der Branche an die Bundesnetzagentur übermittelt worden.
Herr Müller-Syring, Herr Feller erwähnte die Asset-Datenbank. Wie funktioniert die Erhebung technischer Daten konkret?
Müller-Syring: Die DVGW S&C entwickelt mit unserer inhaltlichen Unterstützung eine Datenbank, die Netzbetreiber und Stadtwerke ganz maßgeblich bei der Umsetzung der Netzumstellung helfen kann. Konkret können Material und Produkte auf ihre H₂-Tauglichkeit bewertet werden. Das ist wichtig, denn bevor man Wasserstoff ins Netz einspeist, müssen alle Netzkomponenten produkt- oder komponentengenau auf ihre H₂-Tauglichkeit geprüft werden. Mit Hilfe von Herstellererklärungen oder Zertifizierungen, insbesondere bei Wasserstoffbeimischungen über 20 %, evaluiert man alle Bauteile des Gasnetzes. Theoretisch müssten alle Netzbetreiber eigene Studien betreiben, um herauszufinden, wie wasserstofftauglich ihre Komponenten sind. An der Stelle kommt unsere Datenbank ins Spiel. Die Netzbetreiber erstellen eine komplette Asset-Liste und spielen sie gemäß einer speziellen Codierung in die Datenbank ein. Diese ‚antwortet‘ dann in Zukunft automatisch mit einer Liste von Informationen zu Wasserstofftoleranz und -grad. So können Betreiber schnell prüfen, ob ihr Netz wasserstofftauglich ist. Das ist eine erhebliche Entlastung in der operativen Transformation der Gasinfrastruktur.
Wieso muss bei einer Wasserstoffbeimischung unter 20 % keine Prüfung erfolgen?
Müller-Syring: Wir gehen bei unter 20 % Wasserstoffanteil nicht von einer wesentlichen Änderung der Versorgungsaufgabe aus. So lange liegt es also in der Verantwortung des VNB zu entscheiden, ob er sein Netz mit dem Gasgemisch betreiben kann. Geht der Wasserstoffanteil über 20 % hinaus, nennen wir das eine wesentliche Änderung der technischen Versorgungsaufgabe. Dann wird ein Sachverständiger gebraucht, der einschätzt, ob der Betrieb möglich ist. Um das zu bestätigen, benötigt der Sachverständige zahlreiche Informationen. Da kommt wieder die Datenbank ins Spiel, mit deren Hilfe alle Assets in Hinblick auf den Betrieb mit Wasserstoff bewertet werden. Wir als DBI unterstützen bei der operativen Transformation, dem technischen Vollzug der Hausaufgaben, die im GTP festgelegt sind. Deswegen haben wir uns intensiv mit den Netzbetreibern und Unternehmen, die bei H2vorOrt tätig sind, abgestimmt und Feedback eingeholt: Welche Ergebnisse sind essenziell aus Sicht der Netzbetreiber? Wie muss die Datenbanken funktionieren, damit euch bestmöglich bei dieser Mammutaufgabe geholfen ist?
Feller: Die Datenbank ist ein sehr wichtiges Projekt. Wenn Verteilnetzbetreiber ihre Anlagen prüfen, machen sie das entweder 700 mal deutschlandweit, oder greifen auf diese tolle Lösung zurück. Sie ist die Brücke über einen Fluss, durch den wir sonst nicht schwimmen könnten. Übrigens ist sie europaweit einmalig.
Gab es seitens der Verteilnetzbetreiber denn grundsätzliche Vorbehalte gegenüber Wasserstoff?
Feller: Rückmeldungen wie „Wasserstoff macht keinen Sinn“ oder „Wir sehen Wasserstoff nicht als perspektivische Lösung und glauben, es geht weiter mit Erdgas“ haben wir nicht erhalten. Natürlich zwingen wir keinen zum Wasserstoff, Verteilnetzbetreiber können ihre Planungen frei gestalten. Einige planen mit Biomethan, das ist auch eine vernünftige Lösung. Allerdings ist die Verfügbarkeit da regional sehr unterschiedlich und insgesamt eingeschränkt. Indem wir die Netze H2-ready machen, schaffen wir einen Status quo, in dem wir mit jeder Versorgungssituation umgehen können. Netze, die H2-ready sind, sind ja immer noch „Methan-ready“. Die Umstellung ist kein Austausch, sondern eher ein Upgrade des Netzes. Nur weil ein Netz H2-ready ist, heißt es nicht, dass Wasserstoff drin ist. Es ist nur für den Wasserstoffbetrieb ertüchtigt, aber die Umstellung auf Wasserstoff kommt erst nach der H2-readiness.
Hat die derzeitige Energiekrise einen Einfluss auf die Attraktivität von Wasserstoff?
Feller: Aufgrund des Ukraine-Kriegs ist derzeit ein massiver Push-Faktor weg vom Erdgas zu verzeichnen. Dadurch erreichen wir jetzt für ausländische Wasserstofferzeuger ein anderes Level der Investitionssicherheit. Und das ist trotz der schrecklichen Ursache etwas, das für die Erreichung der Klimaneutralität eine große Wirkung entfaltet; es kommt auch Bewegung in die sonst eher träge Infrastrukturentwicklung. International wird klar: Die Deutschen werden langfristig gesehen kein LNG mehr kaufen, weil sie klimaneutral werden wollen. Also lohnt es sich, in die Wasserstoffproduktion zu investieren.
Was halten Sie von der Idee, in bestehende Netze sukzessive mehr Wasserstoff einzuspeisen?
Feller: Die Vorstellung, das wäre der bessere Weg, teile ich nicht. Sehen Sie, bei 20 % volumetrischer Beimischung gibt es ungefähr 7 % CO2-Minderung. Das heißt: Um in einem Netzgebiet mit beispielsweise 20 % Wasserstoffbeimischung die gleiche CO2-Reduktion zu erzielen wie bei einer Umstellung auf 100 %, müssen Sie ein 14mal so großes Gebiet umstellen. Und auch für eine Beimischung ist zu prüfen, ob es sensible Abnehmer gibt, die ihre Anlagen anpassen müssen. Sinnvoller wäre es, sich direkt kleinere Netze vorzunehmen, die jeweils auf 100 % Wasserstoff, den Zielzustand, umgestellt werden. 20 % Beimischung ist kein Ziel-, sondern ein Übergangszustand, außer in Fällen, in denen das restliche Gas Biomethan ist. Für die dezentrale Elektrolyse ist er absolut notwendig, damit sich heute schon Wasserstoff in bestehende Netze einspeisen lässt. Es wird auch Gebiete geben, wo über den Backbone 20 % beigemischt werden, aber ich denke nicht, dass wir deutschlandweit durchgehend 20 % Beimischung sehen werden. Der Fokus der meisten Verteilnetzbetreiber wird sein, so schnell wie möglich auf 100 % zu gehen.
Warum sagen einzelne Marktakteure, dass man ein neues Netz bauen müsse?
Feller: Abseits von Partikularinteressen weiß ich nicht, warum manche das fordern. Wir haben über 554.000 km Verteilnetze in Deutschland. Ich sehe keine Möglichkeit, ein derartiges Netz auch nur annähernd bis 2045 neu aufzubauen. Vereinzelt wird das sicherlich passieren,
aber in meinen Augen ist die zügige Umstellung auf einhundertprozentige H2-Readiness der Bestandsnetze ökonomisch und ökologisch der beste Weg.
Ist die Umstellung auf Wasserstoffnutzung vergleichbar mit der Umstellung von L- auf H-Gas?
Feller: Ja. Sie wäre quasi die dritte große Umstellung nach der Stadtgas-/Erdgasund der L/H-Gas-Umstellung. Die Wasserstoff-Umstellung wird etwas komplexer sein, weil hier auch alle Endgeräte, die zum Zeitpunkt der Umstellung nicht H2-ready sind, getauscht werden müssen. Aber wenn wir die Klimaneutralität erreichen wollen, sollten diese Geräte ohnehin ausgetauscht werden. Die Hälfte aller deutschen Haushalte verwendet Gasheizungen, ein Viertel Ölheizungen. Ich bin ein großer Fan von Wärmepumpen. Aber wie schnell ist ein großflächiger Umtausch auf Wärmepumpen möglich? Vielerorts scheitert er schon aus Mangel an Fachkräften. Die rechtzeitige Dekarbonisierung des Wärmesektors ist eine unglaubliche Aufgabe, für die wir alle Lösungen brauchen werden – in meinen Augen führt an Wasserstoff im Wärmesektor kein Weg vorbei.
Allerdings ist immer die Frage: wo soll er herkommen?
Feller: Wir als Verteilnetzbetreiber können uns nur vorbereiten und unsere Netze H2-ready machen. Es wäre wichtig, von der Politik ein klares Bekenntnis zur Dekarbonisierung der Gas-Infrastruktur zu bekommen. Auch wenn wir es schaffen, die Produktion erneuerbarer Energien zu verdoppeln und zudem signifikante Energieeinsparungen zu erreichen, müssen wir immer noch über 50 % unseres Energiebedarfs importieren. Wir sollten deshalb international klar kommunizieren: Deutschland braucht Wasserstoff in großen Mengen. Das tut die jetzige Regierung, zum Beispiel durch neue Wasserstoffabkommen. Davon brauchen wir jetzt sehr viele.
Sind die Verteilnetzbetreiber auf europäischer Ebene verbunden?
Feller: Ich verweise da auf die Initiative Ready4H2. Hier arbeiten Verteilnetzbetreiber aus rund 20 europäischen Ländern daran, die Gasverteilnetze zur führenden Verteilungsinfrastruktur von Wasserstoff in Europa zu transformieren. Hierbei werden Know-How und Erfahrung ausgetauscht, es gibt aber auch eine Roadmap für die europäischen VNBs, die die Basis für einen koordinierten, europaweiten Transformationsprozess ist. Der GTP bedient diesen Prozess von deutscher Seite.
Gibt es auf internationaler Ebene Projekte, die mit dem Gasnetztransformationsplan vergleichbar sind?
Feller: Etwas Vergleichbares zum GTP gibt es weltweit noch nicht. Wir werden aber bald ähnliche Konstrukte in unseren Nachbarländern sehen, insbesondere auch im Rahmen der Implementierung der Ready4H2-Roadmap. Über ReadyforH2 stimmen wir uns permanent mit anderen europäischen Verteilnetzbetreibern ab und bringen unsere Konzepte und Erfahrungen in den Austausch ein. Es ist auch sehr hilfreich, dass der DVGW seine Datenbank nicht nur auf den deutschen Markt beschränkt, sondern europäisch verfügbar machen wird. Eine schnelle Transformation der anderen Länder hilft letztlich auch Deutschland.
Herr Feller, Herr Müller-Syring, vielen Dank für das Gespräch.