Eine aktuelle Studie von Oliver Wyman und IW Consult, erstellt im Auftrag der Wirtschaftsvereinigung Stahl, hebt die Schlüsselrolle der Stahlindustrie für industrielle Netzwerke, wirtschaftliche Stabilität und einen starken Mittelstand hervor. Sie zeigt auf, wie die Transformation der Branche sowohl zur Erreichung der Klimaziele als auch zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit stahlverarbeitender Industrien beitragen kann. Grundlage der Ergebnisse sind Analysen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Interviews mit Expert:innen sowie eine Umfrage unter 192 Stahlabnehmern, die im Jahr 2024 durchgeführt wurde.
Die Befragungen und Analysen verdeutlichen, dass der Stahlstandort Deutschland vor einer richtungsweisenden Entscheidung steht. Die Ergebnisse zeigen eine wachsende Skepsis der Kunden der Stahlindustrie hinsichtlich eines erfolgreichen Transformationsprozesses. Laut den Befragungen hätte ein Scheitern der Transformation schwerwiegende Folgen für Investitionen und Arbeitsplätze in den stahlverarbeitenden Industrien.
Nils Naujok, Partner Energy and Natural Resources bei Oliver Wyman: „Die Stahlindustrie ist ein wesentlicher Bestandteil des Wertschöpfungsnetzwerks Deutschlands und leistet durch enge Vernetzungen bedeutende Beiträge zum Industriestandort. Die Dekarbonisierung der Stahlindustrie bietet für den Industriestandort Deutschland ein enormes Potenzial, weil der CO2-Fußabdruck der Kundenindustrien durch Net-Zero-StahlTechnologien erheblich gesenkt werden kann. Ein Scheitern dieser Transformation hätte jedoch gravierende Auswirkungen auf die Bruttowertschöpfung wichtiger Kundenindustrien und die zukünftigen Produktionskapazitäten der Stahlbranche. Daher muss die grüne Transformation gelingen, damit sie zum Wegbereiter für die Dekarbonisierung und Stärkung der Resilienz des Wirtschaftsstandorts Deutschland werden kann.“
Hanno Kempermann, Geschäftsführer von IW Consult: „Unsere Analysen zu den wirtschaftlichen Branchenverflechtungen und unsere Unternehmensbefragung bei Stahlverarbeitern machen deutlich: Stahl ist eine der industriellen Kernbranchen. Eine lokale Stahlindustrie ist ein wichtiger Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit der nachgelagerten Industrie, sei es als Impulsgeber für Innovationen, höhere Nachhaltigkeitsstandards oder als Sicherung von Qualitätsvorsprüngen. Zieht die Stahlindustrie weg, werden auch Teile der nachgelagerten Branchen ihre Produktion am Standort verringern.“
Dr. Martin Theuringer, Geschäftsführer und Chefökonom der Wirtschaftsvereinigung Stahl: „Die Studie von Oliver Wyman und IW Consult kommt zur rechten Zeit. Sie macht vor dem Hintergrund der aktuellen Stahl-Krise deutlich, was auf dem Spielt steht, nicht nur für die Stahlindustrie, sondern auch für eine Vielzahl industrieller Netzwerke, einschließlich des industriellen Mittestands in Deutschland, der in hohem Maße stahlintensiv ist. Die Studie ist daher ein weiterer Call-for-Action: Es muss jetzt gehandelt werden, auf deutscher und EU-Ebene bei der Senkung der Energiekosten, bei der Schaffung eines wirkungsvollen Außenhandels- und Carbon Leakage-Schutz sowie bei der Errichtung von Leitmärkten für Clean Stahl ´made in Europe.“
Kernpunkte der Studie im Überblick:
Die Stahlindustrie in Deutschland ist ein unverzichtbarer Bestandteil erfolgreicher industrieller Netzwerke. Sie sichert nicht nur die strategische Unabhängigkeit, sondern ist auch ein zentraler Faktor für die gesamtwirtschaftliche Resilienz. Stahlintensive Wertschöpfungsketten, die aus der Stahlindustrie, stahlintensiven Abnehmern und Vorleistern bestehen, machen 23 Prozent des Produktionswerts (1.717 Milliarden Euro), 17 Prozent der Wertschöpfung (591 Milliarden Euro) und 12 Prozent der Arbeitsplätze (5,5 Millionen) in der deutschen Wirtschaft aus. Besonders der industrielle Mittelstand in Deutschland ist stark stahlintensiv, denn rund die Hälfte des Produktionswerts, der in diesem Sektor erwirtschaftet wird, ist auf das „Wertschöpfungsnetzwerk Stahl“ zurückzuführen. Rund zwei Millionen Menschen, was einem Anteil von 37 Prozent entspricht, arbeiten in Bereichen, die als „stahlintensiv“ gelten.
Eine starke heimische Stahlindustrie ist essenziell für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher Stahlverarbeiter, insbesondere im Mittelstand. Laut einer Unternehmensumfrage sehen 71 Prozent der befragten Unternehmen Stahl aus Deutschland als prägend für das Label „Made in Germany“. Zudem sind 80 Prozent der Ansicht, dass deutscher Stahl geringere CO₂-Emissionen aufweist als ausländischer Stahl. Für 69 Prozent der Unternehmen ist deutscher Stahl ein entscheidender Faktor für die Stabilität der Lieferketten. Darüber hinaus geben 63 Prozent an, dass die enge Vernetzung zielgerichtete Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ermöglicht.
Eine erfolgreiche Transformation der Stahlindustrie kann diesen strategischen Vorteil weiter stärken. Ein steigendes Angebot an CO₂-reduziertem Stahl ermöglicht es den Abnehmern, ihre eigenen Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig das Kunden- und Zuliefernetzwerk auszubauen. 72 Prozent der befragten Stahlkundenunternehmen erwarten, durch die Transformation der Branche ihren eigenen CO₂-Fußabdruck verringern zu können. Für 81 Prozent der befragten Experten sind „Grüner Stahl“ und Dekarbonisierung zentrale Themen für die Zukunft ihrer eigenen Industrien. Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass ein Euro an staatlicher Anschubfinanzierung, kombiniert mit Eigeninvestitionen der Stahlunternehmen, drei Euro an Produktionswert in den Zulieferindustrien generieren kann.
Der Mangel an klaren Rahmenbedingungen führt derzeit zu erheblicher Unsicherheit darüber, ob die Transformation der Stahlindustrie erfolgreich umgesetzt werden kann. Ein Scheitern hätte gravierende Auswirkungen auf den Industriestandort Deutschland. Aktuell werden 70 Prozent des Stahlbedarfs der stahlintensivsten Industrien in Deutschland durch deutsche und europäische Hersteller gedeckt. Doch nur 14 Prozent der befragten Unternehmen gehen davon aus, dass eine erfolgreiche Umstellung eines Großteils der Primärstahlanlagen bis 2035 realisierbar ist. Für 81 Prozent der befragten Experten stellen hohe Energiepreise und eine unzureichende Verfügbarkeit die größten Risiken für das Scheitern der Transformation dar.
Design der Studie
Die vorliegende Studie stützt sich auf Daten und Informationen aus verschiedenen Quellen. Dazu gehören Marktanalysen von Oliver Wyman, basierend auf Projekten mit Energielieferanten, Stahlproduzenten und der Baustoffindustrie, sowie Interviews mit 17 Expert:innen aus der Stahlindustrie, dem Zuliefer- und Kundennetzwerk, die zwischen Januar und Mai 2024 durchgeführt wurden. Ergänzend wurden durch IW Consult gesamtwirtschaftliche statistische Analysen und Berechnungen vorgenommen, um Wertschöpfungsnetze zu analysieren, den wirtschaftlichen Beitrag der Stahlindustrie zu ermitteln, Investitionseffekte abzuschätzen und Szenarien zu entwickeln. Zusätzlich fand eine telefonische Befragung von 192 Unternehmen aus den Kundenbranchen der Stahlindustrie statt.
Die IW Consult ist spezialisiert auf Auftragsforschung und Dienstleistungen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis. Auftraggeber sind Unternehmen, Kommunen, Verbände, Ministerien, Stiftungen und öffentliche Institutionen. Mit einer evidenzbasierten Beratung unterstützt die IW Consult ihre Kunden bei Fragen zu Wachstum, Entwicklung und Wirtschaftsthemen. Mit HeyHugo bietet sie eine regionale Datenplattform an, die Informationen zu über 100 wirtschafts- und gesellschaftsrelevanten Indikatoren enthält. Die IW Consult wurde 1998 gegründet und ist ein Tochterunternehmen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).
Die Wirtschaftsvereinigung Stahl ist die Stimme der Stahlindustrie in Deutschland, die sich zum Ziel gesetzt hat, bis 2045 klimaneutral zu produzieren – und damit ein Drittel der gesamten industriellen Treibhausgasemissionen einzusparen. Der Verband mit Hauptsitz in Berlin macht sich für einen politischen Rahmen stark, der einen klimaneutralen und auch in Zukunft starken Stahlstandort möglich macht. Mit 35,4 Millionen Tonnen im Jahr 2023 weist Deutschland die größte Stahlproduktion Europas auf.
Link zur Studie: chrome-extension://efaidnbmnnnibpcajpcglclefindmkaj/https://www.wvstahl.de/wp-content/uploads/20241216_Oliver-Wyman_Stahl_Studie.pdf